Farin Urlaub - Die Wahrheit übers Lügen
Völker Hört Die Tonträger (D 2008)
Nein, dieses Mal gibt es keine Kalauer, von wegen "Pogo, bis der Arzt geht" oder so. Stattdessen wird an dieser Stelle auch mal das Solowerk von Dr. Urlaub gewürdigt - verspricht Manfred Prescher. 20.10.2008
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Das Böse ist bekanntlich immer und überall, vor allem aber bei Konzerten - zumindest jedenfalls, wenn es nach fundamentalistischen Christenmenschen geht. Man möchte gar nicht wissen, wie diese Herrschaften reagieren würden, wenn irgendjemand den Herrn karikieren oder ihn in einem lustigen Popsong veralbern würde. Was? Das hat´s alles schon gegeben? Und man soll diese Leute "einfach reden lassen"? OK. Wenn die dafür im Gegenzug aufhören, meinereinen missionieren zu wollen. So geschehen nach dem Konzert von Leonard Cohen in der Münchner Olympiahalle: Den Weg zur U-Bahn-Haltestelle säumten eifrige Recken, die im Solde Gottes oder irgendeiner spirituellen Vereinigung standen und das Buch "Rock im Sarg" an die zufriedenen Konzertbesucher verschenkten. Netter Titel und ein Wortspiel mit dem Namen eines Festivals, das früher im Sportareal auf dem Oberwiesenfeld stattfand.
Die Heilandsjünger haben auf jeden Fall weder Kosten noch Mühen gescheut, denn das Traktat kostet bei Abnahme von mindestens 20 Exemplaren immerhin 2,90 Schweizer Fränkli das Stück. Natürlich war die milde Gabe auch im sprichwörtlichen Sinn völlig umsonst, denn erstens macht Cohen keine Rockmusik und zweitens ist er genau das Gegenstück der in dem Buch beschriebenen 30 Stars. Die sind nämlich fast alle jung über den Regenbogen marschiert, während der kanadische Barde muntere 74 Jahre alt ist. Was natürlich drittens und erneut beweist, wie gestrig die klerikalen Unfreidenker sind. Denn heute werden Pop- und Rockstars alt. Sie leben gesund, reifen zu wahren Methusalems heran und erstellen oft gar CO2-neutrale und biologisch abbaubare Songs. Weil Ausnahmen auch diese Regel bestätigen, seien Doherty/Winehouse als fleischgewordene Symbole längst vergangener Zeiten erwähnt.
Auch Jan Ulrich Max Vetter, der als Farin Urlaub bekannte König des gediegenen Fun-Punk, ist längst über das Alter hinaus, in dem man Sid-Vicious-mäßig von den versifften Bühnen dieser Welt abtritt. Wer will, kann für ihn am 27. Oktober eine Kerze ins Fenster stellen, da der Arzt an diesem Tag bereits seinen 45. Geburtstag feiert. Das fortgeschrittene Alter sieht man ihm freilich nicht an; er hat sich so jugendlich frisch gehalten, daß er sich neben der besten Band der Welt noch eine zweitbeste gönnen kann - das Farin Urlaub Racing Team. Bereits seit 2001 zeigt er mit diesem Projekt sowohl, daß er ohne das "Gegenstück" Bela B. zurechtkommt, als auch, daß er über die Verve eines hochbegabten Jungspunds verfügt. Der Mann wird auch mit 46 noch voll im Saft stehen, das sei den Christenmenschen hiermit an Eides Statt versichert.
Warum Farin Urlaub seine Band "Racing Team" nennt, weiß ich nicht. Dem Vernehmen nach hat er mit Motorsport nicht viel am Hut. Das Pilotieren im Rennauto überläßt er lieber dem Bundesgenossen Rod, der im Frühling immerhin im 300 PS starken Seat Leon Supercopa über die Piste heizte. Aber Namen sind eh nur Schall und Rauch, die Wahrheit liegt auf dem Platz et cetera. Farin hätte sein side project natürlich auch "Farin und die rollenden Steine", erst recht aber "Farin und die Philosophen" nennen können, da er auch dieses Mal wieder mit seiner Weisheit verblüfft, was schon der Albumtitel "Die Wahrheit über das Lügen" dokumentiert.
"Nichimgriff" ist etwas handfester und kann glatt als gelungene Fortsetzung von "Junge" durchgehen - allerdings aus einem anderen Blickwinkel. Diesmal sind es nicht die Eltern, sondern Farin selbst, der behauptet, daß das Leben des Besungenen aus dem Ruder läuft. Und natürlich hat Herr Urlaub einen anderen Anspruch an die menschliche Existenz als Otto Reihenhäuslebesitzer oder evangelikale Bibel-Exegeten. Der knappe Text der neuen Single "Nichimgriff" richtet sich gegen die weitverbreitete Egozentrik, die logischerweise oft in Selbstmitleid gipfeln muß.
Farin Urlaub bringt genau das auf den Punkt: "Du bist der Beste/Du bist einfach perfekt/Niemand versteht dich/Keiner zollt dir Respekt." Die Reise zum Mittelpunkt der Erde führt eben doch meist durch die Tränenkanäle ins Epizentrum des selbstreferentiellen Bebens. Das sind "Dinge, von denen" man eigentlich gar nichts wissen will, wie Farin betont: "Tu dir mal selber leid/Ich habe grad keine Zeit", singt er weiter. Genau! Bloß weil der Dieter ein Auto hat und man selbst keines, obwohl es einem zusteht, muß man nicht gleich die Restwelt mit diesem Problem konfrontieren. Es sei denn natürlich, man verpackt es in einen Song, der das Dilemma auf die Stufe der Allgemeingültigkeit hebt. So wie es einst Don Gibson und Dr. Kurt Ostbahn mit "Oh Lonesome Me"/"Wo bleib i" getan haben. Der Wiener Arzt für besondere Verhältnisse sang "Olle hams a Auto und gnua Göd fian Sprit/Manche goa mit Radio und Liegesitz/I hob nua a Radl und des is hi/Oooh - wo bleib i?" Loser aller Länder, vereinigt euch!
Ihr wißt ja, liebe Leser, daß an mir ein Diplomat verlorengegangen und bislang nicht wieder gefunden worden ist. Nur so kann man freilich eine Kolumne wie diese am Leben halten, weil da in der Regel ja Songs, Künstler oder Zeitgeistströmungen "abgehandelt" werden, denen der Ruch des Zweifelhaften oder mindestens des Mediokren anhaftet. Für Farin Urlaub gilt das ganz bestimmt nicht. "Nichimgriff" ist genau das, was der Fan erwarten darf: ein Gassenhauer, eine Power-Pop-Hymne, wie es sie seit "Westerland", "Grace Kelly" oder "Paul" konstant und in dieser Qualität eben nur von Ärzten gibt. Die erste Single aus "Die Wahrheit übers Lügen" wird garantiert ein Hit, da bin ich sicher. Was ich aber von Pinks weltweitem Megaseller "So What" halten soll, weiß ich noch nicht. Bis nächste Woche habe ich mich darauf garantiert eingegroovt, das steht fest. Diesem Song kann schließlich zwischen L. A. und Wladiwostok derzeit niemand entgehen.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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