Kolumnen_Miststück der Woche II, Pt. 71

Haindling: "Schickts eich"

Wie hieß es früher immer bei Stefan Raab? Richtig: "Wir haben doch keine Zeit!" Um genau dieses Phänomen der ewigen Rastlosigkeit geht es im vorliegenden bayrischen Lied. Dem Volk wird quasi auf die Uhr geschaut - sagt Manfred Prescher.    10.08.2009

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

 

Was verbirgt sich eigentlich hinter der Zahl 94333? Eigentlich das gleiche wie hinter den Koordinaten 48o 49´ N und 12o 25´ O, nämlich der Ort Haindling im niederbayerischen Nirgendwo. Man sollte meinen, daß dieser beschauliche Flecken, auf dem 100 Menschen und etwas mehr Kühe ihrem Tagwerk nachgehen, eine Oase der Ruhe und Beschaulichkeit ist. Und vielleicht ist das auch so, zumindest dann, wenn nicht gerade der berühmteste Einwohner von Haindling (nach dem 1806 verstorbenen Benediktinerpropst Roman Zirngibl - nicht zu verwechseln mit Donald Ducks Nachbarn Zorngiebel) sein auf weiten Reisen in andere Niemandsländer zusammengesammeltes Instrumentarium auspackt und loslegt.

Den Österreicher mag das an den notorischen Querschädel Hubert von Goisern erinnern, was irgendwie auch stimmt. Beide Musiker kommen aus eng umrissenen, größtenteils auch engstirnigen Gegenden, die kaum ein Mensch zuvor betreten hat, und wirken oft bärbeißig und grantig - vor allem, wenn sie unsere spätkapitalistische Zivilisation in einen oder mehrere Kontexte zu archaischen Hinterwäldlern stellen (wo, ganz unter uns, natürlich auch nicht erst seit George Doublejuh der Yankee-Dollar regiert).

 

Künstler wie Hans-Jürgen Buchner (also Mr. Haindling himself) oder eben Hubert von Goisern sind einerseits der Goethe-Institut-taugliche Beleg, daß wir Multikulti sind, andrerseits das Symbol für die These, das selbst Kuhhirten intelligent und vorurteilsfrei sein können. Man weiß ja spätestens seit Ethan "Der Tag wird kommen" Edwards und John Fords "The Searchers", daß selbst Reaktionäre lernen können.

Damit wir uns hier nicht mißverstehen: Buchner ist kein Reaktionär, sondern einer, der unbedingt hinaus muß in die Welt und gerade dadurch auch den Zugang zur Heimat behält. Derart hinterfragt er den bis in die Fernsehgegenwart ("Dahoam is dahoam") dunkelbraun gefärbten Begriff, definiert ihn neu und arbeitet ihn an der rauhen Wirklichkeit ab. Getreu dem Motto: "So, jetzt stell ma uns der Reihe nach hi, und dann kriagt jeder a gscheide Watschn."

"Schickts eich" vom aktuellen, merkwürdig betitelten Album "Ein Schaf denkt nach" beschreibt das Rastlose, das bis in den hintersten Herrgottswinkel vorgedrungen ist und vom Oktoberfest mit seiner Instant-Gemütlichkeit über den Unternehmens-Event (incentive!) bis hin zum zwanglosen Zusammensein im privaten Kreis alles erfaßt hat - und nebenbei auch noch eine allgemeine Komasauf- und -freßmentalität im Schlepptau führt. Weil wir nämlich keine Zeit für irgendwas und irgendwen haben, weil wir denken, daß der verliert, der als erstes das Bremspedal drückt, wird´s halt nichts mit der Entschleunigung. Eher behagliche Hippie-Serien wie "Irgendwie und Sowieso" und "Zur Freiheit" oder die Gutmenschen-Dokureise "Gernstl unterwegs", für die Haindling die weitläufigen Titelmusiken komponiert hat, sind was für Stehengebliebene. Das sind die Leute, die gern den Tag im Kaffeehaus und den Abend in der Wirtschaft verbringen, die Schnapsen oder Schafkopf spielen, sich noch mit anderen Menschen gepflegte Räusche und eben keine Highspeed-Zudröhnung gönnen.

 

Der Song ist dementsprechend ein mundgeblasener Parforce-Ritt durch die "Alles-mitnehmen-Kultur" geworden, der so eingängig ist, daß er auch die Stadl-Gemeinde ansprechen könnte. Sowas nennt man in Bayern "hinterfotzig".

An der angesungenen Situation wird sich natürlich auch durch ein ebenso gut gemeintes wie gut gemachtes Lied nichts ändern. Erstens wußte schon der späte John Lennon, daß Popsongs nichts bewirken, und zweitens ist der Zug ja sowieso erst mal abgefahren, direkt von New York über Uppsala, das Zillertal, Haindling und Timbuktu nach Peking und Wellington. So hat sich auch auf dem Land die Heimat gewandelt: Die soziale Zwangsgemeinschaft der Bauern ist mit dem Reichtum dem allgemeinen Egoismus gewichen, die Dörfer sind in der Regel nur Vorstädte oder Teile einer Metropolenregion. Brunzriegelsreuth und St. Öd an der Dödl sind genauso überall wie Hamburg oder Wien. Hinter jedem Heuschober steht ein BMW X5, die Holzbalkone sind Statussymbole, aber dafür muß niemand mehr in die Kirche müssen. So hat alles sein Gutes, auch der Zeitdruck. Man muß ihm ja nicht unbedingt nachgeben.

Nächste Woche wird es an dieser Stelle um etwas ganz anderes gehen - nämlich um die Beastie Boys. "Too Many Rappers" heißt das neue, mit dem Kollegen Nas eingespielte Stück, und es läutet vielleicht das Ende des Trios ein.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Haindling - Ein Schaf denkt nach

(Photos © www.haindling.de)

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Ariola/Sony BMG

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