Jochen Distelmeyer - Heavy
SonyBMG
Musikredakteure lieben ihn. Warum das so ist, läßt sich nicht wirklich sagen - aber wahrscheinlich liegt es daran, daß der Ex-Blumfeld-Vordenker den Bildungsbürger im Journalisten weckt. Das meint zumindest unser Popmusik-Experte Manfred Prescher. 05.10.2009
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Ein Scherz machte anno 1992 die Runde: Die Menschheit steht kurz vor der Revolution, der Kapitalismus ist dem Ende nah, doch Jochen Distelmeyer möchte den versammelten Aktivisten vor dem Umsturz noch eine flammende Rede vorsingen. Nach 27 Stunden ist der Monolog dann vorüber, und bis auf Jochen sind alle schon eingenickt, selbst Blumfeld-Schlagzeuger André Rattay ist auf sein Drumkit herabgesunken. So kommt es, daß die Menschheit die Revolution verschläft.
Natürlich war an Aufstände schon damals nicht mehr zu denken. In der Dekade vor der Jahrtausendwende hatte sich jeder längst prima auf seiner Konsumscholle eingerichtet und auf seine Weise mit dem System arrangiert, "L´etat et moi", sozusagen. Man warf also die "Ich-Maschine" an, um noch einen weiteren Blumfeld-Albumtitel zu nennen.
Daß die Band den Rückzug ins Private bestens beschrieb und Jochen Distelmeyer dabei eine Wortgewalt an den Tag legte, mit der sich Philosophie, Reimkunst und - ja! - Pop zu etwas Eigenem verbinden ließen, muß man rückwirkend anerkennen. Er und Blumfeld waren zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle, sprich in Hamburg, wo Diskurskultur auf Oberprimanerebene gerade ziemlich gehypet wurde. Daß man durch diese Umstände und ein gemeinsames Schwurbeln quasi mit der Heißlaberpistole direkt an eine einzige Generation aus Slackern, Studienabbrechern und Hobby-Intellektuellen gebunden wird, mußte die unvermeidliche Konsequenz sein.
Ted Gaier, der Keyboarder der Goldenen Zitronen, beschreibt dieses Gemeinsam-alt-und-bedeutungslos-werden so: "Ich erinnere mich besonders an das Abschiedskonzert von Blumfeld in Hamburg, weil mir damals etwas Merkwürdiges auffiel: Beinahe jeder im Publikum war genauso alt wie Jochen." Während bei Oasis Frischlinge herumtoben, die leicht Noel Gallaghers Kinder sein könnten, während sich bei Hansi Hinterlader oder Bob Dylan Viertklässer, Oma, Opa und Ottonormalalter mit der Jugend treffen, bleibt der Querdenker der Jahrgänge ´67 bis ´77 unter sich. Den Bezug zum Vorher hat man abreißen lassen, weil Sid Vicious genauso tot ist wie Kant, Hegel oder Boris Vian. Die Zukunft ist auch schon vorbei, weil das Billy-Regal, das man sich 1990 gekauft hat, um seine Douglas-Coupland-Bücher drin verrotten zu lassen, bis heute hält. Bis aufs "Eis des Jahres" gibt´s nix Neues mehr im Leben dieser Leute.
Ehe ich es vergesse: Eben hatte Bata Illic Geburtstag; 70 wurde der Mann von "Mikkaela a-ha". Was das mit Jochen Distelmeyer zu tun hat? Auf den ersten Blick natürlich nichts, auf den zweiten und dritten irgendwie aber schon. Beide haben ausgewiesene Charakterköpfe, die sie unverwechselbar machen, beide sind - siehe oben - ein Rollen-Urmuster ihrer Zeit, und beide sind tatsächlich auch veritable, nicht unbegabte Schlagerfuzzis. Illic prägte die 70er Jahre mit Slogans wie "Ich möcht´ der Knopf an deiner Bluse sein" oder "Mit meiner Balalaika war ich der König auf Jamaika", Distelmeyer nannte seine Alben "Verbotene Früchte" oder "Die Welt ist schön". Songtitel wie "Diktatur der Angepaßten" oder "Ghettowelt" würde der studierte Philologe Bata Illic höchstens denken, während Jochen sie eifrig und selbstbewußt in die Welt hinausschickte. Die Schnittmenge zwischen beiden Künstlern bilden "Wellen der Liebe" (Blumfeld) und "Wo Liebe ist, da ist auch ein Weg" (Illic).
Distelmeyers neue Single "Lass uns Liebe sein" paßt ebenfalls in diesen Kontext, auch wenn sie deutlich in die 80er Jahre verweist - und da knickte die Karriere des Jugo-Crooners gerade ein, während der kleine Jochen noch zwischen Clearasil, pubertärer Depri-Lyrik und Morrissey-Verehrung hin- und hermäandert sein könnte. Macht ja nix, daß dieses Jahrzehnt im direktem Vergleich mit anderen Zehnerblöcken relativ viel geschmacklich Bedenkliches hervor gebracht hat. Aerobic zum Beispiel. Jede Frau, die etwas auf sich hielt, wollte wie Jane Fonda aussehen und hüpfte daher durch "So mache ich es selbst"-Videos. Dazu trug sie Leggings, die bald darauf ihren Siegeszug durch die Welt antraten und sich hauteng über alle Krautstampfer zogen.
Im Video zu Distelmeyers Song ist der heilige Jochen am Rande einer Aerobic-trifft-Hobby-Formationstanz-Trainingseinheit zu sehen, auf daß alte Zeiten bedenklich wach werden - oder bedenkliche Zeiten erdenklich alt wirken. Und zwar so grausig-greisig, daß selbst Bata Illics Schunkelschlager noch weniger Staub angesetzt zu haben scheinen. Weil: Vom Bedeutungsgehalt der frühen Tage im Blumfeld ist schon längst - und jetzt erst recht - nichts mehr übrig. Also "Friede, Freude, Eierkuchen/Laßt uns einen Distelmeyer-Gig besuchen". Was ich nicht machen werde. Stattdessen wird es hier nächste Woche um Michael Jacksons vom Nachlaßverwalter veröffentlichtes Lied gehen.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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Kommentare_
Hallo Evolver,
Euer Kolumnist hat verdammt recht. Wer wissen will, was für ein Schwurbel der Distelmeyersche ist, der lese die aktuelle Spex...
Bis Bald
Carmen