Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 90

Justice: "D.A.N.C.E."

Wenn sich Elektro- und Rockfans auf etwas einigen können, muß das nicht unbedingt gut sein. Der gefundene Konsens ist nämlich meist ein fader Kompromiß. Zwei Franzosen beweisen gerade, daß es auch anders geht - berichtet Manfred Prescher.    23.07.2007

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Wir haben das ja alles schon gehört - und es erinnert einen irgendwie an die ersten ausufernden Hype-Momente von Air und vor allem Daft Punk. Folglich werden Guy-Manuel de Homem-Christo und Thomas Bangalter häufig als Vergleichsgröße angegeben, wenn es um das Crossover-Potential von Justice geht.

Es ist ja auch so einfach, Parallelen zu ziehen: Beide Duos kommen aus Frankreich, sind elektro-affin und leben ihren Hang zu Rockismen und Pop-Zitaten aus. Die beiden Justitiare sind als DJs und Remixer in der Szene etabliert und haben tatsächlich auch schon Daft Punks "Human After All" geschmacksveredelt. Diese kargen Gemeinsamkeiten klingen für viele Pop-Fans auch im Jahr x nach der Francosizer-Welle so exotisch, daß prompt die eine oder andere blau-weiß-rote Schublade geöffnet wird. Und dann immer rein mit den verspielten Franzmännern. Man muß die Kollegen Journalisten, die schreibenden Amazon- und Sonstwas-Kunden freilich auch ein wenig in Schutz nehmen: Die meisten wissen schlicht zu wenig über die rührige Elektro-Szene im westlichen Nachbarland und über deren Mittelpunkt, das Justice-Label Ed Banger Records.

Otto Normalpophörer bekommt nun mal nur die erfolgreichen Speerspitzen, also Daft Punk, die Gilbert Becauds des High-Tech-Zeitalters, mit. So oberflächlich betrachtet, überwiegen natürlich die Gemeinsamkeiten. Als würde Al Bundy vom Sofa aus - und in völliger Unkenntnis irgendwelcher geschichtlichen Zusammenhänge - über Frankreich herfallen. Sein Irrlicht erhellt allerdings tatsächlich den einen oder anderen real existierenden Punkt. Konsens ist nun mal der kleinste gemeinsame Nenner.

Es ist also ein Kreuz mit den trendigen Franzosen. Deshalb tragen Justice das †-Zeichen als "t"-Ersatz im Namen und benennen ihr erstes Album schlicht mit diesem Symbol. Daß das ein wenig wie Prince und sein im Streit mit der Musikindustrie geborenes, reichlich verschwurbeltes Signum wirkt, das wissen Justice genau. Xavier de Rosnay und Gaspard Auge sind schließlich absolute Fans der vom Prinzen und Jacko geprägten Ära. Aber dazu später.

Die beiden Pariser Scherzkekse sind sich natürlich darüber im klaren, daß dieses eine Kürzel, dieses †, die schreibende Zunft vor eine große Herausforderung stellt: Der Redakteur kann zwar meist selbst lange und schwer auszusprechende Worte - etwa "i.d.i.o.s.y.n.k.r.a.t.i.s.c.h." tippen, aber was macht er bloß, wenn PC und Mac dieses Sonderzeichen nicht für den alltäglichen Gebrauch vorsehen? Richtig, er nennt es "Symbol".

wurde bei Prince zu "Symbol" oder gar zu "Love Symbol". Und bei Justice verrenkt sich der Rezensent zu "Cross Symbol".

 

Bleiben wir bei Prince und Jackson, also in den 80er Jahren. Oder noch besser, gehen wir gleich noch ein paar Monde weiter zurück - in eine Zeit, als den kleinen Michael noch eine süße braune Stupsnase zierte und sein hohes Organ altersadäquat klang. Der kleine Wutzl der Jackson 5 brachte damit das Kindchenschema in die Soul-Musik und in Songs wie "ABC" oder "I´ll Be There"; im Gegensatz zum Label-Kollegen und Wonderboy Stevie, der schon als Kind zu erwachsen wirkte - Fluch und Segen des "12 Year Old Genius".

"ABC" und "I´ll Be There" sind so etwas wie die Ursuppe, aus der sich "D.A.N.C.E." freischwimmt, mit Kinderstimme und fast schon beängstigend gutem Motown-Groove. Wie in einer Zeitreiseschleife lassen Xavier und Gaspard den größeren und helleren, vom örtlichen Stukkateur aufgearbeiten Jackson dazukommen. "P.Y.T." läßt grüßen. Der Groove des "Thriller"-Albums und seines Nachfolgers umschmiegt einen Popsong mit Club-Attitüde. Nicht umgekehrt, denn "D.A.N.C.E." ist langsamer, weniger schweißtreibend als Justices erster kleiner, auf die Tanzflächen der Trend-Etablissements beschränkter Hit "Never Be Alone".

Nein, "D.A.N.C.E." hat weniger Verweise auf Disco-Ära oder auf den eleganten Funk von Chic als andere Stücke des Albums. Es ist ein tanzbarer Ohrwurm mit Retro-Charme. Sein Beat ist knackig, aber †-sicher aus der Retorte. Welchem Genpool er tatsächlich entspringt und ob er am Ende gar gesamplet wurde, was ich vermute, kann ich (noch) nicht sagen. Aber zu den Klängen der Marseillaise schwöre ich feierlich, daß ich Justice auf die Schliche kommen werde.

Im Gegensatz zum gut abgehangenen Edel-Groove von "D.A.N.C.E." funktioniert der Justice-Weg nach oben - oder aus der grauen Vorstadt ins Zentrum des Trend-Gewusels und von da weiter in die große, weite Welt - nach hochmodernen Bedingungen: zunächst über die Menschen, die mit dem sprichwörtlichen Riecher ausgestattet sind oder zumindest wissen, was gerade im konspirativen Metropolenzirkel angesagt ist - also über Ed Banger. Dann werden die Plattformen wie MySpace oder YouTube genutzt, um eine wesentlich breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Als ausgebildeter Graphik-Designer setzt Xavier de Rosnay dabei auf Bilder.

Sein Kompagnon Gaspard Auge verdiente seinen Lebensunterhalt vor der Pop-Karriere mit der Gestaltung von Flyern und weiß seinerseits, was Party-People so an optischen Gimmicks wünschen. Also ist das Video zum Hit - und genau das wird "D.A.N.C.E." †-sicher – eine ebenso turbulente wie szenige Fun-Aktion: Die beiden Franzosen tragen T-Shirts, deren witzische Motive sich passend zum Liedtext ständig ändern. Irgendwie ist die Botschaft nicht zu fassen. Genauso übrigens wie die Vielfalt auf dem Album. Da braucht man nur "Waters Of Nazareth", die Vorgänger-Single von "D.A.N.C.E." anzuhören. Wie schön wäre es doch, wenn es davon bald einen Metallica-Remix gäbe. Das wäre absolut stimmig und außerdem ein weiterer Beleg für den Konsens-Charakter von Justice.

Bleibt der Urteilsspruch: Nicht alles, was gruppenübergreifend massenkompatibel ist, ist schlecht oder gar liberal. Justice werden hiermit von allen diesbezüglich geäußerten Vorwürfen frei gesprochen. Die Verdachtsmomente ließen sich nicht erhärten.

Das Gericht zieht sich zu einer weiteren Anhörung von "†" zurück.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Justice - †


Ed Banger Records/Warner (F 2007)

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