Kanye West - Graduation
Universal (USA 2007)
HipHop trifft Ambient-Techno. Geht das gut? Blöde Frage - findet Manfred Prescher. Er kann sich noch gut an Afrika Bambaataa erinnern. 03.09.2007
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Das ist der Fluch des hohen Alters: Man hat keine Ahnung mehr, was vor kurzem passiert ist und nimmt die Jetztzeit nur noch rudimentär wahr. Mit etwas Pech wird eine Tram, dieses massive Objekt schierer Gegenwärtigkeit, beim Überqueren der Straße übersehen - und man verpaßt endgültig den nächsten Nachtbus zurück ins Leben. Und das alles bloß, weil man wieder gedanklich in der Vergangenheit weilte und der Strudel aus verflossener Zeit durch den Schädel tobte.
Solch ein Vergangenheitssog ist in meinem Falle noch schlimmer als bei anderen Menschen. Ich erinnere mich zwar nicht an verlorene Schlachten und kann daher auch meinen Enkelkindern nicht davon vorschwärmen, daß der Erste Weltkrieg eigentlich der viel schönere gewesen ist. Dafür purzeln in meinem Schwurbel alle möglichen Soundfiles durcheinander, die ich in mein privates Mikro-MP3-Layout komprimiert habe. Allerdings sind diese Fantastilliarden Lieder derart in alle Winkel und Nischen verräumt, daß ich sie oft nur per Zufall - also durch Querverweisketten - wieder finde. Das Suchen ist dann so aufreibend, daß es tatsächlich schon vorgekommen ist, daß ich einen gottlob stehenden Gelenkbus übersehen habe. Bleibende Schäden hat das nicht hinterlassen; möglicherweise habe ich aber vergessen, was ich justament eigentlich dem Vergessen entreißen wollte.
Ich erinnere mich zum Beispiel noch gut dran, wie das war, als es HipHop noch nicht gab und Sprechgesang einfach nur "Rap" hieß. Damals war das Instrumentarium knapp bemessen, was einen klaren Sound ergab. Die menschliche Beatbox traf auf Sound-Computer, woraus in Chicago gleichzeitig House-Musik wurde. Auf diese Wurzeln verweisen moderne HipHop-Tracks in der Regel nicht, die sind ganz auf funky Opulenz ausgerichtet. Der Weg von Levert und Guy zu Usher und Timbaland ist kürzer als der von Bambaataa aus.
Deshalb klingt Kanye Wests "Stronger" auch so neuartig für den jungen Menschen. Der Musiker, Produzent und Rapper aus Atlanta hat sich nämlich was scheinbar sehr Innovatives ausgedacht: Er holte sich Guy-Manuel de Homem-Christo und Thomas Bagalter, besser bekannt als Daft Punk, mit ins Studio. Die französischen Ausnahmetechniker steuern ihr "Harder, Better, Faster, Stronger" aus dem Jahre 2005 bei, nehmen das Tempo aber weitgehend raus, sodaß sie "Harder" und "Faster" schon mal aus dem Titel streichen mußten. Da man außerdem nicht wirklich sagen kann, daß das Ergebnis dieser französisch-amerikanischen Koproduktion "Better" ist, verschwand auch dieses Wort. Bleibt also "Stronger". Und das stimmt: Durch den vergleichsweise mächtigen Hops-Beat wirkt der bekannte Daft-Punk-Song tatsächlich etwas stärker, weil um das Hinterteil besser konturiert. Oder anders: Da schwingen die Backen im Takt, daß es nur so eine Freude ist.
Witzig ist natürlich, daß sich mit dieser Kollaboration die Verhältnisse umkehren: Normalerweise sind Amerikaner die großen Verbündeten, die uns "alte Europäer" erstmal von Diktatoren befreien und uns dann mit jedem Wrigleys-Stanniol die Popkultur näher bringen. Dieses Mal erobert der Franzmann die US-Metropolen. Kanye ist nämlich einer der absoluten HipHop-Superstars. Wo der hinrappt, werden Platten zu Gold. Das heißt, daß plötzlich jeder ein Stück Frankreich im Ghettoblaster-iPod herumführt - und das selbst dann, wenn er das Herkunftsland der beiden House-Gallier auf dem Globus niemals finden würde. Das hat schon wieder dermaßen was, daß man die Mittelmäßigkeit der Umsetzung von "Stronger" glatt in Kauf nimmt. Gespannt warte ich nun darauf, daß nach Rammstein, Falco und Kraftwerk auch andere Hit-Garanten aus unseren Breiten mit US-Rappern zusammenarbeiten. Wie wäre es zum Beispiel mit Nena und Public Enemy? Mit Sportfreunde Stiller und Timbaland? Wirklich einmalig wäre ein Dr.-Dre-Mix des Seer-Songs "1 Tag".
Gott sei Dank vergesse ich solche Obstler-Ideen schnell wieder. Manchmal ist es doch zu etwas gut, so alt zu sein.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
Kanye West - Graduation
Universal (USA 2007)
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 17. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Ina Müller.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 16. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Deine Freunde.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 15. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Ava Vegas.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die sechste Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Elvis Costello.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die fünfte Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Lana Del Rey.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die vierte Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Charlotte Brandi & Dirk von Lowtzow.
Kommentare_