Kolumnen_Miststück der Woche II, Pt. 69

Major Lazer: "Hold The Line"

Früher rettete der DJ noch das Leben trauriger Menschen, jetzt richtet er ein Massaker an. Aber so ist er nun mal, der brachiale Zeitgeist - findet Manfred Prescher.    27.07.2009

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Die Zeiten ändern sich ganz radikal. Wo noch vor Jahr und Tag ein Laserstrahl dazu da war, die hedonistisch-masochistischen Triebe zu befriedigen, wie es Frankie Goes To Hollywood seinerzeit mit "hit me with those laserbeams" in "Relax" skizzierten, kann er heute töten. Zumindest, wenn es nach dem Albumtitel von Major Lazer geht: "Guns Don´t Kill People ... Lazers Do" heißt dieses elektronische Werk.

Wie gesagt, die Zeiten ändern sich. Fragt nur mal Ritter Kunibert, ob er ein mordendes Schwert aus Licht für möglich hält. Zu Old Kunis Zeit waren die Dinger nun mal aus geschmiedetem Eisen, etwas später, bei Obi Wan und Vader, bekanntermaßen aus brummenden Neonröhren. Warum sollen Laserstrahlen also nicht töten, wo sie doch unfruchtbar machen können?

Doch was hat es mit diesem Major Lazer auf sich, der sich nun anschickt, die Intellektuellen-Tanztempel zwischen Bristol und Berlin, zwischen Wagadugu und Wien zu erobern?

 

Es handelt sich um ein gesichtsloses Projekt der britischen DJs Diplo und Switch, dessen vermarktbare Aura einer alten japanischen Superhelden-Comic-Serie entnommen wurde. Also sind Cover und Figur des Majors schön bunt gezeichnet und erinnern somit auch an den Graphic-Style von Clintons Funkadelic- und Parliament-Projekten. Auch musikalisch stand der verrückte Clan um George Clinton und Bootsy Collins Pate für den durchgeknallten Disco-Sound, den das Duo aus verschiedenen elektronischen Gerätschaften herauszaubert. Aber Major Lazer verleibt sich noch andere Stilelemente ein: hier ein wenig HipHop, dort ein wenig Dancehall Reggae, dazu TripHop, Jungle und klassischen Housesound, wie ihn in den mittleren 80er Jahren unter anderem Todd Terry unters Volk gepitched hat.

Die entscheidende Zutat ist allerdings der Elektrobeat - und der erinnert stark an Afrika Bambaataa und die Soul Sonic Force. Weil den aber von den Jungspunden, die heute die Tanzflure bevölkern und sich vom Lazerbeam genüßlich dahinraffen lassen wollen, keiner kennt, finden sie "Hold The Line" auch so neu und cool. Dabei bezog sich schon Bambaataa auf Kraftwerk, die natürlich das Urmuster für alle vollsynthetischen Loops sind. Bei "Hold The Line" ist der Einfluß besonders im Telefongeklingel zu hören, das den Track gliedert. Das altmodische Geräusch könnte nämlich auch von Kraftwerks LP "Computerwelt" stammen. Hört nur mal "Taschenrechner" und ihr wißt, was ich meine.

 

Trotz oder vielleicht auch wegen dieser eklektizistischen Sammlung von Loops, Grooves und anderen Versatzstücken ist Major Lazer unverwechselbar. Während andere heute den Disco-Sound werkgetreu kopieren und damit zwangsläufig nur an der Oberfläche kratzen, wühlen sich die beiden Briten durch die musikalischen Sedimente der vergangenen 30, 35 Jahre und legen so Dinge frei, die sich im Schutz historischer Ablagerungen gut gehalten haben. Somit präsentieren sich die im Dancefloor-Kontext altertümlichen Materialien heute quasi in alter Frische.

Die Mischung macht´s halt, und was das Mixen von Sounds angeht, sind die beiden DJ-Profis wahre Meister. Der Umgang ist spielerisch, das Ergebnis ebenso quietschbunt wie ein Superhelden-Comic, sodaß es doch wahrscheinlich ist, daß der Mainstream, also Otto Normaldisco-Gänger, bald darauf abfahren wird - was wiederum die Fans der ersten Stunde dazu bringen wird, die Gefolgschaft zu kündigen. Schon Ritter Kunibert wußte, daß ein Geheimbund etwas Elitäres ist, in dem das Selbstbewußtsein deutlich besser gedeiht als in der Masse. Deshalb sind die ersten "sellout!"-Rufe schon zu vernehmen.

Wer aber wie du, lieber Leser, über solchen Dingen steht und Geschmack an ziemlich schräg zusammengebastelten Sound-Mixturen hat, der kann mit Major Lazers "Hold The Line" eine Zeitlang viel Spaß haben. Im nächsten Spätsommer erinnert sich nämlich kein Schweinderl mehr an diesen Track und das dazugehörige Album. Wie es weitergeht, ist auch klar: Irgendwann wird ein findiger Musikarchäologe den Sound ausgraben und zu anderen Fundstücken gesellen.

Vorher, genauer gesagt, nächste Woche, werde ich erklären, was die EVOLVER-Homebase Wien im November mit meiner Heimatstadt Nürnberg verbindet. Wer bis dahin überleben will, sollte allerdings Lazer-Strahlen ausweichen. Denn die sind bekanntlich tödlich.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Major Lazer - Guns Don´t Kill People ... Lazers Do

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(Downtown Records/Universal)

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