Mr Hudson And The Library - A Tale of Two Cities
Universal Music (GB 2007)
Schon wieder eine musikalische Massenbeglückungswaffe aus dem Vereinigten Königreich - charmant, simpel und locker. Der Stoff, aus dem man globale Hits baut, meint Manfred Prescher. 05.03.2007
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
"Too Late, Too Late" könnte der Sommerhit des Jahres werden. Wer jetzt meint, daß es für die Veröffentlichung des kommenden Sonnenschein-Songs noch zu früh ist, vergißt natürlich die sich rapide ändernden Klimabedingungen. Die Erde ist eine Dame im fortgeschrittenen Alter und leidet unter der sogenannten "Altweiberhitze". Zum Beweis dieser These braucht man nur den vergangenen Winter Revue passieren zu lassen, der als solcher kaum zu erkennen war, weil er nahtlos Herbststürme und mildes Novemberwetter in April-Kapriolen übergehen ließ. Die Klimakatastrophe naht, tektonische Platten verschieben sich, in Tirol wird man demnächst Wasserski fahren, und die Tänze auf den frisch aktivierten Vulkanen werden immer heißer. Noch ist´s zum Feiern nicht too late. Warum also nicht schon im März die Bacardigläser füllen? Ein Hersteller kalter Süßspeisen weist uns den Weg, sinnvoll mit der Erderwärmung umzugehen: Er preist "unser Eis des Sommers" schon seit Mitte Februar an. Also raus ins Freie - it´s Partytime!
Mag es auch schlimm mit dem Wetter sein, ein paar gute Seiten hat das Ganze (zumindest vorübergehend, aber wir leben ja sowieso nicht ewig): Die Minirock-Saison ist beinahe ganzjährig, und die Damen schauen viel länger wie frische "Apferln" aus (Konstantin Wecker). Schön ist es, wenn sie sich beim Gehen zum Takt von Mr Hudsons kommender Erfolgsscheibe wiegen. Und genau das werden sie, weil dieses Lied dafür sorgen wird, daß selbst der hinterletzte iPod auf den richtigen Groove-Pegel gleichgeschaltet wird.
Dabei fängt der Song eher an, als sei er eine neue Oasis- oder meinetwegen auch Kaiser-Chiefs-Single: "Why must I always play the clown" - dieser Eingangssatz wäre auch aus dem Munde eines Ricky Wilson oder Gallagher-Bruders absolut stimmig. Die Gitarrenbreitseite paßt ebenfalls eher zu Britrock-Heroen, doch nach dem Break wird alles anders. Auf einmal befindet sich der Hörer in einem Reggae-Szenario, das freilich nichts mit der verwurzelten Tiefe von Marley und Co. zu tun hat. Eher klingt es nach "Sunshine Reggae" oder ähnlichen substanzreduzierten Massenbewegungsmitteln.
Dazu singt Mr Hudson mit einer Stimme, die an den Sting von "Dreams Of A Blue Turtles" oder "Nothing Like The Sun" erinnert. Der Vergleich paßt besser, als es zuerst den Anschein hat: Auch der Policeman hatte ein ausgesungenes Fable für Light-Varianten von Reggae-Beats. Man kann natürlich auch sagen, daß Sting mit den vielen Roxannes und Englishmen in New York eine sehr eigene Kategorie entwickelt hat, aber das stimmt natürlich nicht. Die vielen Einwanderer aus Jamaika und den West Indies haben das Königreich geprägt, da braucht man nur an das "Ob-La-Di, Ob-La-Da" der Beatles und Marmalades, an "Dreadlock Holidays" von 10cc oder gar an "Barbados" von Typically Tropical denken; von Madness, Specials und den coolen Neo-Ska-Jungs gar nicht erst zu reden. Weit weg davon ist "Too Late, Too Late" nicht.
Man tut Mr Ben Hudson allerdings unrecht, wenn man vermutet, er wolle nur schnell in die Charts und noch mal abkassieren, bevor die Plattenindustrie oder die Welt oder was auch immer endgültig untergeht. Der Mann ist integer. Belesen ist er übrigens auch - der Bandname The Library erklärt sich aus seinem Beruf, er ist Bibliothekar. Aber ich schweife ab. Nein, ein Abzocker ist er nicht, das belegt das Album "A Tale Of Two Cities" sehr deutlich. Hudson und seine vier Mitstreiter sind im Auftrag der musikalischen Grundausbildung unterwegs. Der Anteil an gepflegtem HipHop, wie ihn die Roots zelebrieren, ist hoch. Daneben finden sich geschmackssicher zusammengesuchte und -gestellte Spurenelemente, die bis zu Cole Porter und bis zum englischen Multitalent Noël Coward zurückreichen. Die große Zeit der Musicals, der Vaudeville-Revuen und Broadway-Inszenierungen lebt ebenso auf wie das Daisy Age von De La Soul.
Neu ist daran nur, daß sich jemand die Zeit nimmt, diese Bruchstücke aus der Historie, dem eigenen wie dem kollektiven Gedächtnis, herauszufiltern und so umzugruppieren, daß es sehr heutig klingt. Das liegt allerdings nicht nur am handwerklichen Geschick oder am musikalischen Gespür, sondern an der Gnade der späten Geburt in die gesunde Mittelklasse hinein. Keine Not, kein Bedürfnis, jetzt sofort den Zustand der Gesellschaft oder des Planeten zu ändern. Stattdessen genug Zeit und Muse für Aufzucht und Hege persönlicher Pläsierchen. Das kann man Herrn Hudson freilich nicht vorwerfen, niemand wird aus freier Entscheidung Ghettokind. "The Revolution Will Not Be Televised" sang Gil Scott-Heron, als die Verhältnisse noch anders waren. "Too Late, Too Late" wird dagegen garantiert auf allen Kanälen zu bewundern sein und alle Twenty-, Thirty- und Fortysomethings auf prächtige Zeiten einstimmen.
Mag die Welt noch so warm werden ... dann wird halt die nächste Lichtung zur Open-air-Sauna und der Baggersee zum Whirlpool. Den Sound dazu liefert für 2007 Mr Hudson.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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