Patience & Prudence - Best Of
Fenn Music (D 2004)
4, 3, 2, 1, meins - obwohl Manfred Prescher gar nicht mitsteigert, quält ebay ihn solange mit einem uralten Kinderlied, bis er aufgibt und zur fröhlichen Melodie im Hirn pfeift. 08.05.2006
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Vergilbt und braunstichig, also so gar nicht zu einer modernen, trendigen Online-Plattform passend, ist der aktuelle Werbespot von ebay. Er erinnert stark an Zeiten, in denen angeblich alles besser war und die Erfinder des virtuellen Auktionshauses noch nicht mal in Abrahams Wurstkessel schwammen. Zumindest aber ging man damals, in den 50er Jahren, in echte Geschäfte - und wenn was unter den Hammer kam, dann waren es entweder Kunststücke der gehobenen Preisklasse oder Relikte nach der Zerschlagung eines Unternehmens oder eines Privathaushaltes. Dazwischen gab es nichts; Auktionismus war noch kein Volkssport.
Warum also ebay auf die miefig-kuschelige Ära des Gelsenkirchener Barock setzt, muß wohl auf ewig ein Geheimnis bleiben. Vielleicht richtet sich der Spot an die Suchenden, die hinter Nierentisch-Nippes oder alten Schallplatten her sind? Ich bin mir sicher, daß die altmodische Spezies der Jäger und Sammler einen großen Teil des weltweiten Erfolges des Internet-Versteigerungsriesen ausmacht. Der Rest der Menschheit konsumiert lieber und interessiert sich im großen und ganzen nicht für Überbleibsel vergangener Epochen - und wenn doch, dann genügt ein Retro-Modell oder ein kostenlos und illegal bei Kazaa herunter geladenes MP3-File. Sollte das alles tatsächlich so sein, dann würde der obskure Gassenhauer zur Intention von ebay passen wie das Gesäß auf die Brille.
Das Lied aus der ebay-Werbung ist in den Online-Tauschbörsen zigfach und in unterschiedlichen Versionen zu finden. Es war schon ein Klassiker, bevor es 1956 in der Version aufgenommen wurde, die nun im Spot zu hören ist. Man muß eigentlich nur wissen, daß der Song "Tonight You Belong To Me" heißt, dann läßt er sich bei ebay.com sogar als Original-Single ersteigern - und das gleich mehrfach. Bevor ich allerdings das merkwürdige Lied erwarb, verbrachte ich die Zeit mit letztlich unnützer geistiger Anstrengung, da ich zu überlegen versuchte, wer das Miststück sang.
Je mehr ich aber sinnierte, desto stärker manifestierte sich das nicht mal zwei Minuten lange, in eine simple Melodie gegossene Sirenengeräusch in mir. Wer dahinter steckt, bekam ich auf diese Art trotzdem nicht raus, obwohl ich mit den Lemon Sisters oder den Chordettes schon näher dran war, als ich dachte. Schließlich nahmen die Chordettes, denen wir das doch recht ähnliche "Mr. Sandman" verdanken, den Song ebenfalls im Jahr 1956 auf, ihr Gesang ist aber bei weitem nicht so schrill. Die Chordettes waren erwachsene Frauen, die ebay-Version wurde jedoch von Kindern gesungen - was ich aber erst herausfand, als ich entnervt aufgab und Google zu Rate zog: "Tonight You Belong To Me" wird für den Spot in der Variante von Patience & Prudence verwendet. Die beiden Schwestern, Töchter des halbwegs erfolgreichen Bandleaders, Pianisten und Songwriters Mark McIntyre waren zum Zeitpunkt der Aufnahme gerade mal 12 und 14 Jahre alt. Der Sage nach haben Patience und Prudence das Lied im Alter von 9 und 11 Jahren bei einem Strandurlaub erstmals geträlltert.
Ein Kinderlied ist "Tonight You Belong To Me" dennoch nicht. Im Gegenteil: Was in den Crooner-Versionen von Frankie Laine oder Dottie West und sogar in der albernen 1989er-Ukulele-trifft-Flügelhorn-Filmvariante von Steve Martin und Bernadette Peters wie ein ganz normales Liebeslied wirkt, bekommt durch den naiven Nymphchen-Charme der McIntyre-Schwestern einen merkwürdigen Beigeschmack von Päderastentum und Konfirmantinnensex. Die Autoren David Lee und William Samuel Rosenberg - besser bekannt als Billy Rose - schrieben das Lied Mitte 1926 allerdings für Erwachsene und verdienten recht ordentlich mit den frühen Hit-Versionen von Irving Kaufman oder Gene Austin. Ob der Broadway-Impresario und Zeitungskolumnist Billy Rose, dem wir unter anderem den Novelty-Klassiker "Does The Spearmint Lose Its Flavor On The Bedpost Overnight?" oder das geniale "Me And My Shadow" verdanken, Gefallen an der Lolita-Version seines Hits fand, ist nicht überliefert. Die Tantiemen dürften ihn aber doch sehr erfreut haben, denn das kokette Mäderl-Duo kam mit seinem prä-damenhaften Hochtongeträller überaus gut an. Ein weiterer Hit blieb den beiden allerdings verwehrt; die Jungfrauen-Aura ist halt nach dem ersten Mal für immer zerstört.
Wer den Song in einer aktuellen Version hören will, dessen Sinnlichkeit nicht grenzwertig ist, sollte sich die Bonus-DVD von Fiona Apples letzter CD "The Extraordinary Machine" vornehmen. Die Live-Aufnahme aus dem Cafe Largo in Los Angeles ist ein magischer Moment - und völlig ohne Kindchenerotik. Sätze wie "I know, I know with the dawn you will be gone" oder "Once more just to dream in the moonlight, my honey" klingen in ihrer Verfänglichkeit verrucht, aber nicht verboten.
Ein Tipp für ebay: Nehmt doch diese Version, dreht dazu ein Flower-Power-Filmchen - und man hätte das Gefühl, die virtuelle Welt wäre viel bunter, als sie in Wirklichkeit ist. Jeder würde den Song wiedererkennen und mit ebay verbinden, gleichzeitig bekäme das Ganze einen frischen, fast sommerlichen Touch. Aber die Herrschaften hören ja nicht auf mich: Im neuen Spot vermischen sie die Spießigkeit des Telekom-Mannes mit Langnese-Optik. Zum Eiskrem-Motto "Sommerzeit ist ebayzeit" fehlt eigentlich bloß noch "Ice In The Sunshine".
"4,3,2,1 - schon vergessen" – dieser Werbefilm ist so belanglos, da bleibt garantiert nichts hängen. Das ist wahrscheinlich schlecht für das Auktionsgeschäft und den Aktienkurs, aber garantiert gut für mich.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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