Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 28

Mike Leon Grosch: "Don´t Let It Get You Down"

Wie singen die Bläck Fööss Jahr für Jahr im Karneval? "M´r lasse de Dom in Kölle!" Wenn es nach Manfred Prescher ginge, sollte auch Mike Leon Grosch bitte dortbleiben.    15.05.2006

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

The winner takes it all? Wenn dem so wäre, dann bliebe in der Fußball-Championsleague kein Platz für die Zweit- und Drittplazierten der englischen, spanischen oder deutschen Ligen - und aus der Superstar-Suche hätte es nur Gewinner Tobias Regner an die Spitze der Hitparaden geschafft. Aber längst ist der Gewinn der goldenen Ananas fast so viel wert wie der eigentliche Pokal: In Europas Kicker-Königsklasse stehen mit dem FC Barcelona und Arsenal London zwei Vizemeister im Endspiel, und die deutschen Charts werden von der eigentlichen Nummer 2 des RTL-Spektakels angeführt.

Die Plattenfirma von Mike Leon Grosch verweist darauf, daß es in England 2002 einen ähnlichen Fall gab. Dort wurden der "Starsearch"-Sieger Will Young und sein unterlegener Kontrahent Gareth Gates zu echten Superstars. In Deutschland muß eine Platte längst nicht mehr hunderttausendfach über die Ladentische gehen, damit sie direkt auf der Pole-Position einsteigt; ein paar Dutzend durch gezielte Marketingmaßnahmen im Umfeld des Marketing-Instruments Casting-Show verkaufte Maxi-CDs genügen - und schon hat sich der (für alle im Ranking von Media Control sichtbare) Erfolg eingestellt.

 

Mike Leon Grosch entspricht nicht unbedingt dem Klischee eines Superstars. Mit Ziegenbart und Mopsgesicht wirkt er vielmehr wie die Ultralight-Variante von Ricardo Chavira, dem Schauspieler, der in "Desperate Housewives" den Ehemann von Eva Longoria spielt.

Daran, daß der Sohn einer Koreanerin so verweichlicht wirkt, dürften auch die Tattoos, die laut Grosch-Homepage seinen Oberkörper zieren sollen, nichts ändern. Besonders naheliegend ist freilich der Vergleich mit einem anderen Rheinländer: Xavier Naidoo. Beide Sänger haben sich dem verschrieben, was in unseren Breiten für "Soulmusic" gehalten wird und eigentlich eher dazu geeignet ist, Haustiere einzuschläfern oder dem Zuhörer das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.

Wer erst Grosch und dann Naidoo hört, spürt den Unterschied und glaubt bei Xaver plötzlich, so richtig harte, böse Musik zu hören. Denn "Don´t Let It Get You Down" ist so weich, weicher geht´s nicht. Praktisch die zarteste Verseuchung, seit es Schnulzen gibt. So lange in Vernell gewaschen, bis selbst robuste Zeitgenossen Hautauschlag bekommen, wenn nur der bei iTunes und Co. übliche 30-Sekunden-Spot an sie herandringt. "Sometimes we all do wrong I keep hearing the same old song" säuselt Grosch am Ende vom Lied. Wie wahr.

 

Es würde mich nicht wundern, wenn das Lied gegen einen EU-Grenzwert für Weichmacher verstieße. Wahrscheinlich verursacht es Krebs, wenn man ihm über längere Zeit ausgesetzt ist. Aber soweit kommt es sicher nicht, da Sänger und Song bald wieder weit weg vom Fenster sein werden. Und dann darf Grosch wieder auf Hochzeiten herumturnen und dort den Entertainer geben. Dem Vernehmen nach hat die Karriere des Vize-Superstars auch so begonnen: "Sing doch bitte mal die Falten aus dem Brautkleid, Mike." Oder: "Der Hemdkragen ist so steif, da helfen bloß ein paar Takte Grosch." Wenn er erst wieder auf sein Normalmaß zurecht gestutzt worden ist und erneut durch die Stadtviertel Kölns tingeln muß, dann ist die Welt jenseits des Mittelrheintals wieder in Ordnung - zumindest so lange, bis irgendein Dieter Bohlen erneut seine klingenden Kampfstoffe auf die Menschheit losläßt.

Und das wird natürlich unweigerlich geschehen, da erstens der Planet immer noch flächendeckend mit Casting-Shows überzogen wird und zweitens Sieger und Verlierer immer noch spätestens dann in den Charts landen, wenn die Vorgänger gerade gnädig vergessen worden sind. Drittens gibt es auch noch andere Plagen, etwa den Grand Prix - auch wenn der sich netterweise weitestgehend in die westlichen Ural-Ausläufer zurückgezogen hat. Und viertens wartet bestimmt noch ein Grauen auf uns alle, von dem wir noch nichts wissen. Schließlich ist längst alles möglich.

Mike Leon Grosch hat es bewiesen: Ein verirrter, fast unhörbarer Darmwind wurde erst Nummer 1 in der deutschen Hitliste und fällt nun in pestartiger Geschwindigkeit auch über Österreich und die Schweiz her. Irgendwie ist das schon eine beachtliche Leistung für den Loser von Deutschlands erfolgreichem Horror-Contest.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Mike Leon Grosch - Absolute


Sony BMG

(D 2006)

 

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