Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 35

Placebo: "Infra-red"

Bands wie Depeche Mode lassen die 80er ewig weitergehen. Aber auch Placebo haben ihre Wurzeln im Elektropop und Gruftie-Düsterwave. Manfred Prescher zieht den Hut vor ihnen.    03.07.2006

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Der Fluch der Zuspätgekommenen: Als Placebo 1994 in London gegründet wurden, waren sie bereits Gestrige. Die drei Hauptsäulen ihrer musikalischen Einflüsse - also Sisters Of Mercy und Cure zum einen, Depeche Mode und Human League zum anderen und schließlich R.E.M. und die Replacements - verwiesen auf ein eigentlich vergangenes Jahrzehnt. Damals hielten die meisten Menschen Marilyn Manson eher für die Tochter des netten Massenmörders von nebenan und eben nicht für eine spektakulär geschminkte Rock-Ikone für alle, die Alice Cooper verpaßt haben. Die 80er waren alles in allem eine eher unschuldige Zeit, in der jeder eine Nische in seinem eigenen Subkultur-Kellereck fand. Diesen Geist ließen Placebo aufleben - wenn er denn je verstorben war.

Mittlerweile sind ein paar Monde vergangen, und die Band um Brian Molko müßte eigentlich ziemlich vorgestrig wirken mit ihrem musikalischen New-Wave-Sammelsurium. Tut sie aber nicht. Das liegt zum einen daran, daß das Achter-Jahrzehnt ein echtes Revival erfährt, zum anderen auch an der eigentümlichen Mischung aus unterschiedlichen Elementen in ihrer Musik. Wer will, kann darin sogar Verweise auf HipHop oder Chicago-House finden.

 

Verantwortlich für das eklektizistische Zeitkolorit ist Brian Molko. Der Placebo-Sänger und -Gitarrist hat sich schon als Kind auf das Sammeln von Eindrücken verlegen müssen: Sohn eines Amerikaners und einer Schottin, geboren in Belgien, aufgewachsen unter anderem in den USA, in Luxemburg, Liberia und im Libanon - reichlich Einflüsse für ein Kind. Damit scheint er spielend fertig geworden zu sein; auf jeden Fall hat es die Sinne geschärft und Placebo zu einem vielschichtigen Kunstprojekt werden lassen, in dem sich praktisch ein komplettes Jahrzehnt widerspiegelt.

Zum bereits erwähnten Sound-Mix kommt noch Molkos androgyne Optik, beziehungsweise seine an Boy George erinnernde bisexuelle Aura. Auf der Website www.brian-molko.com wird der Sänger als "my charming sweet prince Brian" bezeichnet - und natürlich ist auch der Zwerg aus Minneapolis nicht spurlos an Placebo vorbeigegangen. Einem anderen großen Zwitterwesen verdankt das Trio seinen Durchbruch: David Bowie nahm die Band mit auf Tour, und die Fans des Thin White Duke waren begeistert von Molkos Bühnenpräsenz.

 

Die achtziger Jahre waren auch das Jahrzehnt, in dem man entdeckte, daß Infrarot-Wärme nicht nur zur Schweineaufzucht zu gebrauchen ist, sondern auch Schnupfen und Heiserkeit im Keim ersticken hilft. Im Text ihrer Single "Infra-red" surfen Placebo auf den elektromagnetischen Wellen im Spektralbereich zwischen sichtbarem Licht und langwelliger Mikrowellenstrahlung. Darauf ist vor gut 20 Jahren noch niemand gekommen: "I´m coming up on infra-red/there is no running that can hide you." Und wenn Prinz Brian schon nicht über Wasser gehen kann, so ist er doch dank Infrarotstrahlung zu Wundern fähig: "Cause I Can see in the dark".

Musikalisch ist "Infra-red" ein Bastard, der irgendwo zwischen Sisters Of Mercy und späten Depeche Mode changiert. Wie "Temple Of Love" oder "I Feel You" kommt er weitestgehend ohne Melodie aus, läßt sich aber dennoch prima mitsingen. Daß das Lied auch ein wenig nach Michael Stipe klingt, liegt an Molkos Stimme. Die Ähnlichkeit zum R.E.M.-Sänger ist schon frappant, sorgt aber auf alle Fälle für einen warmen Ton inmitten des unterkühlten Elektrorock des Trios. Die "eiskalten Engel" - in diesem Film wurde Placebos Hit "Every You And Every Me" verwendet - sind also doch nicht so frostig. Placebo heißt ja auf deutsch "ich werde gefallen", und das gelingt der Band mit diesem alle kompositorischen Verrenkungen ignorierenden Stück Zeitgeschichte ausnehmend gut.

Wie alle guten Placebos gaukelt uns "Infra-red" eine Wirkung vor: Der Zuhörer glaubt tatsächlich, etwas Innovatives und Frisches zu hören. In Wirklichkeit enthält das Lied keinerlei neuartige Ingredienz, aber es ist die Wirkung, die zählt. Die positive Reaktion, die der Song selbst bei erfahrenen Kritikastern hervorruft, ist wirklich erstaunlich. Nicht nur der Hit, auch das komplette Album "Meds" wurde überschwenglich gelobt. Eigentlich sollte Molko seine Gruppe endlich in "Placebo Forte" umbenennen, denn der nicht vorhandene Wirkstoff hat längst den gewünschten Effekt: Bei "Rock am Ring/Rock im Park" spielten Placebo direkt vor Depeche Mode. Während Martin Gore und seine beiden Kollegen müde und alt aussahen, ihr Repertoire mit der Routine des altbewährten Star-Ensembles herunterspulten, klangen Placebo tatsächlich knackig und jung. Frisch geschminkt wirkte diese Form des Gestrigen unverbraucht - irgendwie fast schon zukunftsfähig.

 
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Placebo - Meds


EMI

(GB 2006)

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