No Disc – You Make Me Explode
(D 2006)
Diese Nummer wird der Sommerhit 2007. Todsicher. Ist das Ding erst einmal auf CD erschienen, wird kein Pardon mehr gegeben. Manfred Prescher sagt uns, warum das so ist. 18.09.2006
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Ich meine, wer Billy Ocean verwurstet und dazu Cowboyhüte trägt, kann so verkehrt nicht sein. In diesem Sommer zeigten Texas Lightning, daß diese Behauptung stimmt. Beleg ist ihr "No No Never", jener clevere Bastard aus Country-Elementen, Gute-Laune-Bubblegum und bei Raubzügen durch die Popgeschichte gefundenen Zitatenschätzen, der sich so hartnäckig und ohne Abnutzungserscheinungen in den deutschen Gehörgängen festsetzte, daß man sich irgendwann wunderte, warum das im Resteuropa keiner zur Kenntnis nahm. Natürlich ist der Dittsche-Hit kein innovativer Geniestreich, aber doch so einprägsam und charmant, daß er immer noch nicht nervt, obwohl er bei Antenne Dingenskirchen und der Heimatwelle St. Öd auf der Playlist rotiert. Das läßt sich nicht von allzuvielen Songs sagen.
Ein Song, auf den das genauso zutrifft und der sich als Dukatenesel für eine daniederliegende Industrie erweisen könnte, schwebt wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen: Wird "You Make Me Explode" erst millionenfach auf Platte gepreßt und CD gebrannt oder bei iTunes verscherbelt, bis das Netz zusammenbricht, dann saust es nieder, bohrt sich ins Gehirn und darin fest. Ein Entkommen ist nicht möglich. Man singt das "babababababa" mit, das den Refrain begleitet, und hält höchstens kurz mal inne, fragt sich, was in aller Welt einen dazu veranlaßt, eine leicht schlüpfrige Zeile wie "You make me explode like a bomb" mitzuträllern, obwohl es einem die gutbürgerliche Erziehung verbietet, Schweinkram in den Mund zu nehmen oder man als zölibatär lebender Mönch im Kloster des heiligen Nimmermehr sitzt und am Rosenkranz flechten sollte. Oder die Exegese der Dylan-Bibel vorbereiten. Oder eifrig über den allerneuesten Kunstschmock nachzudenken, der in den geschmacksbildenden Zirkeln diskutiert wird. Oder mal wieder John Zorn hören, aber der bleibt Gott sei Dank nicht im Ohr. Das Gebrötze hat null Chancen gegen diesen Monolithen von einem Popsong. Ein einfaches "bababa" genügt und man weiß, daß Freejazz heilbar ist.
Dabei hat der Komponist, Texter und Sänger von "You Make Me Explode" durchaus auch ein Faible für Jazz: Der in Polen geborene, vor Jahr und Tag zum Deutschtum konvertierte Armand Wojtczuk hat früh gelernt, wie Improvisieren geht, denn in seiner Heimat gilt diese Art von Musik etwas. Aber Wojtczuk hatte auch noch nie Berührungsängste mit der Popmusik und schaffte es tatsächlich bis auf Platz 1 der polnischen Charts. Damals hätten wir uns darüber noch mit Fug und Recht lustig machen können, denn der deutsche Musikmarkt war ja so gewaltig, daß alle innerhalb einer Woche verkauften Maxi-CDs aufeinander gestapelt den Mount Everest um einige hundert Meter überragt hätten, wenn der Müll nicht vorher zusammenfallen und Hinterindien unter sich begraben würde. Mittlerweile genügt es, wenn durchschnittlich 3,47 CD-Singles im Freundeskreis verteilt werden. Das reicht, damit es mit der Pole Position klappt - und darüber könnte nun Armand Wojtczuk seinerseits lachen.
In seinem Studio entstehen wesentlich komplexere Lieder als dieser eine potentielle Chartbreaker. Dabei werden alle Songs ausschließlich von ihm und seinem Mitstreiter Maciek Wojtkowiak eingespielt - auf zwei Gitarren und mit zwei Stimmen. Klar, daß das manchmal nach Simon & Garfunkel klingt, aber die beiden erreichen oft eine Sound-Dichte, daß der Zuhörer glaubt, eine ganze Band zu hören. Die Stücke werden ausgefeilt und sauber produziert, da ist nix mit Lagerfeuergeschrammel oder Kirchentagsgeklampfe. Unter dem Namen No Disc feilen die zwei akribisch an Melodielinien und schaffen es folgerichtig, daß ihre Gitarren nicht nur gently weepen. Im Augenblick entsteht sogar ein fast Saturday-Night-Fever-mäßiger Disco-Track, bei dem eine Twang-Gitarre den Rhythmus vorgibt.
Aber der Hit unter ihren Produktionen ist ein einfacher Popsong, ohne Schnörkel und Overdubs - und mit 2:56 auch kurz genug, um am Grand Prix teilzunehmen. Mit diesem Lied könnte Deutschland auch in Osteuropa punkten. Das Duo müßte sich nur in Lolek & Bolek umbenennen und die Hälfte der wenigen Textzeilen auf polnisch singen, dann hätte es den paneuopäischen Hit geschaffen, der alle im Rahmen der EU-Osterweiterung fixierten Kriterien erfüllt. "You Make Me Explode" jedenfalls ist ein Killer. Lang genug, daß man spätestens bei der zweiten Wiederholung als dritte Stimme mitkrächzt, und kurz genug, um nicht davon genervt zu sein. Wenn Sonyversal oder sonstwer dieses Lied veröffentlicht, wird jeder merken, daß das Ding ein gewaltiges Miststück ist. Und sehr, sehr charmant. Man muß es einfach mögen. Was anderes bleibt einem gar nicht übrig.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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