Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 61

Miststücke des Jahres

51 Miststücke kürte Manfred Prescher in den vergangenen zwölf Monaten - witzige, putzige, nervige und eklige. Aber welche sind die absoluten (Anti-)Favoriten des Jahres 2006?    02.01.2007

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Ich stelle mir das so richtig schön gediegen und massenwirksam vor: Günther Jauch und Thomas Gottschalk stehen auf der Bühne der Wiener Staatsoper hinter einem Pult. Jauch trägt einen feschen Anzug, der ihn eher nach Werbeonkel für Rettet-den-Regenwald-durch-Biertrinken, für Baumärkte und Versandhäuser wirken läßt, während Thommy aussieht, als sei er eben aus einer Packung Haribo Colorado gepurzelt.

Wo sonst der Nußknacker seines Amtes waltet, sind nun die beiden Allzweckwaffen der deutschsprachigen TV-Einschaltquotenjäger dabei, das "Miststück des Jahres" zu küren. Während in den Rängen die Prominenz dem Kommenden entgegenharrt und durch Rascheln mit Rocksäumen und Changieren von Hosenbeinen Unruhe ausdrückt, schreiten Kanzlerin und Kanzler nebst Hofschranzen bis hinab zum Ministerialdirektor im Schlepptau zu den reservierten Sitzen.

Die, die eigentlich die Miststücke kaufen und sich wirklich jeden Abfall ins persönliche Zwischenlager innerhalb der von den Ohren begrenzten Zone pressen lassen, müssen - wie immer bei solchen Anlässen - draußen bleiben - hinter dem roten Teppich, auf dem unter anderem Jörg Haider und Jörg Pilawa, Franz Klammer und Franz Beckenbauer würdevoll entlangstolzieren. "Ja mei, wir sind geladen, ihr aber nicht", rufen Ski- und Fußballkaiser im Duett. Währenddessen wirft Madame Benita Ferreroküßchen unters Volk. Wer nicht in der spätdezemberlichen Wiener Kälte verweilen kann, weil die Gans noch im Magen liegt oder er kein Österreich-Visum gekriegt hat, darf das Ganze vom heimischen Sofa aus mitverfolgen. Ob Röhre, Plasma oder LCD - der Miststückgala sind keine technischen Grenzen gesetzt. Wenn´s sein muß, geht es auch in HD.

Besser wird die Sache dadurch zwar auch nicht, aber ORF und ZDF zeigen der Welt wieder einmal, auf welchem technischen Niveau man zu agieren in der Lage ist. Das soll einem der Franzmann erst einmal nachmachen. Der Spezialpreis für Hightech-Beutelschneiderei geht an das "HD Ready"-Logo, mit dem 55 Hertz endlich wie 55 Hertz wirken. Dicht dahinter folgen Blu-ray und wie hieß das andere Format gleich wieder?

 

Aber zurück in den Saal, wo die Theaterglocke gerade zum dritten Mal geläutet hat. Ihr folgt das Orchester James Last, das zunächst die Eurovisions-Hymne spielt, bevor Gottschalk und Jauch mit einer spaßig gemeinten Rap-Einlage die Menschen an den Bildschirmen und in der Staatsoper begrüßen und sie auf den Ernst der Situation aufmerksam machen. Es geht um nichts weniger als um das "Miststück des Jahres 2006". Die ersten 17 werden noch einmal kurz vorgestellt, Josef Hader liest Auszüge aus den Kolumnen, danach gibt es einen zweieinhalb Minuten langen Film, in dem unter anderem Michael Schumacher, Karl Dall, Reinhard Fendrich, Jürgen von der Lippe, Wolf Haas, Kai Pflaume, Madam Natalie und Cordula Stratmann erzählen, warum für sie dieses und kein anderes Lied "Miststück des Jahres" werden muß.

Das wiederholt sich im Laufe des länger und länger werdenden Abends, aber so etwas gehört einfach dazu. Kurz nach Mitternacht kommt dann Franziska Reichenbacher, die deutsche Lottofee, in einem gewagten Blümchenkostüm vom linken Bühnenrand her auf Gottschalk und Jauch zugetrippelt. Die beiden Moderatoren klatschen, weil sie sich zwei,- dreimal gerade noch im Fallen abbremst. Mit den hohen Stöckeln geht sie Thommy bis zum Nabel. Er beugt sich zu ihr und hört den magischen Satz "Der Aufsichtsbeamte hat sich vor dieser Ziehung vom ordnungsgemäßen Zustand des Ziehungsgeräts und der 51 Kugeln überzeugt."

Gottschalk schüttelt den Kopf. "Natürlich hat Manfred Prescher persönlich das 'Miststück des Jahres' gewählt", sagt er und nimmt das erste Kuvert, öffnet es, holt einen Zettel heraus, betrachtet ihn - und reicht ihn dann an Jauch weiter. "In der Kategorie 'sympathischstes Miststück' siegten nicht die Kooks und auch nicht die Towers Of London, sondern - Ta-dah, ein Tusch durch James Lasts Mannen - die Scissor Sisters mit 'I Don´ t Feel Like Dancing'. Den Preis übergibt Manfred Prescher."

Ich trage ein Goldeselchen aus reinem Platin im Arm und gehe auf die Bühne, wo bereits die Scissor Sisters Aufstellung genommen haben. Das amerikanische Quintett bekommt den Preis für die schwungvolle Annäherung an eigentlich längst vergangene Zeiten. Mit ihrem ziemlich offensichtlich an die Bee Gees der "Saturday Night Fever"-Phase angelehnten Disco-Stück sorgten sie für gute Laune und stellten außerdem klar, daß die Kunst des Zitats eine ziemlich hohe ist. Richtig innovativ klingt der Sound, obwohl er nicht wirklich neu ist. Es ist höchstens der Blickwinkel, der sich 2006 geändert hat. Der Hedonist von heute kann auch mal sagen, daß er keine Lust hat, sich unter der Glitzerkugel zu verausgaben. Allein das ist schon einen Preis wert. Aber die Scissors haben sich einen Ohrwurm zurechtgeklaut, der sich auch beim zigsten Anhören kaum abnutzt. Man muß den Song einfach lieb haben.

 

Weiter geht es mit Videos und Lesungen, hin und wieder gönnt sich der eine oder andere Promi auf den Rängen einen Schlaf-Quickie - doch die Trompeten von James "Jericho" Last holen jeden in die rauhe Wirklichkeit zurück. Gottschalk bekommt einen Umschlag von Jauch und fragt, ob da der "Publikumsjoker" drin sei.

"So etwas Ähnliches", antwortet Jauch. "Es ist der Sieger in der Kategorie 'Größtes Geseire des Jahres'. Auch hier gab es durchaus ernsthafte Titelaspiranten, etwa die Babyshambles oder die Sportfreunde Stiller mit ihrem WM-Lied, aber letztlich führte kein Weg an Xavier Naidoo vorbei ..."

Wieder betrete ich die Bühne und überreiche Herrn Naidoo einen Marmorengel, der eine Kette aus goldenen CDs um den Hals trägt. Xaver verbeugt sich, versengt dabei aber mit seinem Heiligenschein einen Teil der Dekoration. "Nicht so schlimm", meint der Künstler, zieht einen Gloria-Feuerlöscher aus dem Umhang und löscht das Feuer mit einem Spritzer aus dem roten Weihwasserspender. Wir sind Papst, wir sind praktisch Weltmeister der Herzen, und wir haben mit Xavier Naidoo einen echten Verkünder. Ein Besuch im Quartier der deutschen Elf, eine Predigt vor Lehmann, Mertesacker und Klose, schon wurde diese immerhin WM-Dritte. Ohne ihn wären die Kicker bereits in der Vorrunde ausgeschieden, soviel steht fest. Benedikts Stellvertreter in den Pop-Charts kann zwar kaum Wunder vollbringen, höchstens Wein in Wasser verwandeln, aber er schafft es salbungsvoll und pseudobedeutungsschwanger, an die niederen religiösen Instinkte in uns zu appellieren. Für den Hohepriester steht fest, daß es nur einen Gott gibt - und der heißt Euro.

 

Es folgen endlose Selbstbeweihräucherungen - und dann, rechtzeitig vor dem allgemeinen Sendeschluß der Anwesenden, endlich das, worauf alle gewartet haben: das "Miststück des Jahres". Die Spannung steigt. Wer wird es sein? Wird es "Grandmaster" Robbie Williams oder schaffen es gar Take That? Was ist mit Depeche Mode? Und mit Bela B.? Manch einer glaubt, es könnten auch Walter Moers und der Führer oder Helge Schneider und seine Emmentalerstulle sein. Aber nichts da! Es ist "You´re Beautiful" von James Blunt.

Ich überreiche dem Sänger den wichtigsten Preis des Abends, eine in Ohrenschmalz gegossene Büste des unbekannten Radiohörers. Es kann keinen Zweifel geben - "You´re Beautiful" ist das absolute Miststück des Jahres.

Der Song wurde zwar schon im August 2005 veröffentlicht, entfaltete sein Potential aber erst zu Beginn des Jahres 2006. Am 23. Januar schrieb ich "Diesem Song kann man nicht entgehen, er ist überall. Besonders hinterlistig: daß 'You´re Beautiful' eigentlich recht unaufdringlich daherkommt, der Song zunächst im üblichen Einheitsgedudel von Ö3, B3 oder Antenne Hinterland nicht sofort negativ auffällt. Irgendwann summe ich ihn mit, später ertappe ich mich dabei, die hochintelligenten Zeilen 'You´re beautifu-u-l, your´re beautifu-u-l, you´re beautifu-u-l, it´s true' mitzusingen."

Elf lange Monate später steht James Blunts Hit immer noch auf den Playlists der öffentlichen wie der privaten Radiosender, dient immer noch zur Beschallung von Boutiquen. Er gehört längst zum Inventar, hat sich auf schleichende Art im kollektiven Unterbewußtsein etabliert. Verstärkt wird die Macht von "You´re Beautiful" durch die neun anderen Songs auf Blunts CD "Back To Bedlam". Die klingen alle ganz genauso wie das "Miststück des Jahres".

 

Auf der Bühne der Staatsoper soll Blunt seinen Song zum besten geben. Da er aber gerade erkältet ist, kann er nicht. Gottschalk läßt sich ein Radiogerät bringen, betätigt den Sendersuchlauf und wird nach nicht einmal fünf Sekunden fündig: "You´re beautifu-u-l, your´re beautifu-u-l, you´re beautifu-u-l, it´s true", dringt es aus dem Gerät. Da bleibt Jauch und Gottschalk nur noch eines: "Gute Nacht, Deutschland, gute Nacht, Österreich!" rufen sie ins Publikum, halten sich demonstrativ die Ohren zu und verschwinden wieder in Richtung Regenwald-Kampagne und Colorado-Tüte.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Scissor Sisters - Ta Dah!


Universal Music (USA 2006)

 

Links:

Xavier Naidoo - Telegramm für X


SPV (D 2005)

 

Links:

James Blunt - Back To Bedlam


Warner Music (GB 2005)

 

Links:

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