Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 64

Primal Scream: "Sometimes I Feel So Lonely"

"Primal Scream" bedeutet Urschrei, doch genau der ist dieser Song nicht. Stattdessen liefern die Britpopper eine anständige Retro-Ballade - findet Manfred Prescher.
   22.01.2007

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Jede Woche fragt das Magazin "Stern" auf seiner letzten redaktionellen Seite, "Was macht eigentlich ..." - und rückt damit noch einmal Menschen ein Stück weit ins Licht der Öffentlichkeit, die ewig nichts mehr Weltbewegendes gemacht haben. Manche davon sind schon lange im Orkus der kollektiven Geschichte verschwunden, weil sie nur einen Sommer oder gar nur einen Tag lang tanzten. Diese Seite lese ich jede Woche zuerst, sie überzieht das Gleichmaß der eigenen Bedeutungslosigkeit mit einer sepiafarbenen Lackschicht. In Worten liest sich das etwa so: "Ich bin zwar auf dem Weg nach oben im zweiten Stock steckengeblieben, dafür ist der Weg nach unten auch nicht so lebensgefährlich."

 

Ein ideales Objekt für die Kolumne des "Stern" wäre sicher Bobby Gillespie, der Kopf von Primal Scream. Denn der hatte schon mit Jesus & The Mary Chain Kultstatus erlangt und ist die einzige Konstante, die seit der 1987er-Debüt-LP "Sonic Flower Groove" Teil der britischen Band ist und somit alle Ups and Downs hautnah miterlebt hat. Mittlerweile gehören mit Gary Mounfield (Stone Roses) und Kevin Shields (My Bloody Valentine) noch zwei weitere Britpop-Heroen aus grauer Vorzeit zur Gruppe.

Gemeinsam kam man Mitte des letzten Jahres mit "Country Girl" in die britischen Charts und beendete eine längere Schwächeperiode. Das dazugehörige Album "Riot City Blues" orientierte sich dabei sehr an den ersten Werken und vor allem an "Primal Scream" von 1989. Gitarrenriffs aus Keith Richards Schule für fetten Elektrobluesrock und brachiale Hooklines aus seligen Yardbirds- oder Stones-Zeiten dominierten. Von der genialen Fusion aus Electrobeat, Funk, Rock und bunten Hippie-Farben, mit denen die Gruppe in den frühen 90er Jahren und mit Monsterwerken wie "Screamadelica" und "Give Out But Don´t Give Up" richtig groß wurde, ist nichts mehr zu spüren.

"Goddamn Hippies" (David Allan Coe) sind die Jungs natürlich trotzdem; über allem schwebt das bekannte Lied "Ein Joint, ein guter Joint, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt". Musikalisch bedeutet das, daß das Tempo immer wieder von Gedudel unterbrochen wird. Alerdings erreicht das Ergebnis glücklicherweise nie die epischen Ausmaße von Allman-Brothers-Songs: Die Lieder werden nicht zerstört und verschwinden auch nicht im Nebeldampf, sie werden nur ausgebremst.

 

Den Abschluß der Platte bildet ein ganz besonderes Stück: "Sometimes I Feel So Lonely" ist ruhig, eine echte Ballade ohne Stilmix-Verirrung, fast schon ein Gospel-Traditional. Und damit geht es natürlich direkt ins Ohr und - eine gewisse spirituelle Veranlagung vorausgesetzt - trifft einen genau da, wo man an den Weihnachtsmann und an die Teilung von Meeren glaubt, also nicht davon ausgeht, daß der kleine Moses schon mit der mittäglichen Suppe für kommende Großtaten geübt hat.

Das Lied erwärmt Seele und Herz, das steht fest. Aber es erinnert doch sehr an andere, genauso mit überirdischem Hall und Glanz belegte Choräle. Etwa an "You Are My Sister" von Antony & The Johnsons oder an "That´s The Way (I´m Only Trying To Help You)" von Culture Club. Dieser Song, bei dem Boy Schorsch von Helen Terrys souliger Stimme zu Höhenflügen in göttliche Regionen getragen wird, ist dem vom Heiligen Geist umwehten Lied von Primal Scream ähnlich. Aber nicht nur das, auch die Melodie, die bis in die hinterste Bank einer Kathedrale perlt, klingt merkwürdig deckungsgleich. Beide Stücke sind außerdem gleichzeitig luftig-leicht und barock-schwer - und man kann sich ihnen kaum entziehen.

 

Schon als ich das Album zum ersten Mal hörte, dachte ich: "Die müssen das unbedingt auskoppeln, es ist ein todsicherer Hit." Im Gegensatz zu Culture Club - damals gingen meine Gedanke in die gleiche Richtung - machten Primal Scream das auch. Allerdings auf vergleichsweise verhaltene Art und Weise, denn es gibt den Song nicht als Maxi-CD. Der einzige physische Tonträger, auf dem er nun ausgekoppelt wurde, ist die 7-Inch-Scheibe, also die klassische Vinyl-Single mit dem verhältnismäßig großen Loch in der Mitte.

45 Umdrehungen pro Minute, damit ist das Abspieltempo deutlich geringer als das einer Compact Disc. Primal-Scream-Fans sind gestrig genug, um sich an einer echten Schallplatte zu erfreuen. Blöderweise ist das Ding auf 2000 mickrige Exemplare limitiert. Das hat zwar was von Winz-Labels, die ihre handgepreßten Erzeugnisse in Kleinstserie anbieten, ist also noch mehr retro als der Song selbst, doch dahinter steht immer noch ein Großkonzern. Und der sorgt dafür, daß auch moderne Menschen in den Genuß der Musica sacra kommen: Apples iTunes hat "Sometimes I Feel So Lonely" angeblich exklusiv im Programm. Das Wort "angeblich" trifft es genau, denn das Lied befindet sich schließlich in identischer Version auf dem Album "Riot City Blues" und kann daher bei so ziemlich jedem Online-Musikladen heruntergeladen werden.

Exklusiv ist allerdings "Gamblin´ Bar Room Blues", die B-Seite der Vinylsingle. Eine deftige Version des Klassikers von Jimmie Rodgers, mit dem vor Äonen schon Alex Harvey brillierte. Wer auf den Sound von John Lee Hooker und Elmore James oder Rolling Stones und Steppenwolf steht, braucht diesen Song unbedingt. Ist man noch dazu in den 70er Jahren geboren, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß man Fan von Primal Scream ist. Dann hat man den "Gamblin´ Bar Room Blues" allerdings auch schon aus dem Netz gesaugt und weiß natürlich längst, was Mr. Gillespie eigentlich macht: altmodische Musik.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Primal Scream - Riot City Blues


Sony BMG (GB 2007)

 

Links:

Kommentare_

gordon - 16.04.2007 : 00.42
Nicht ganz! Die Version von "Sometimes ..." auf der Vinyl unterscheidet sich von der Albumversion!
Manfred Prescher - 16.04.2007 : 09.13
Da hast Du völlig Recht!

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