Kolumnen_Unerwünschte Nebenwirkungen

Fluchtburg

Dr. Trash empfiehlt: Entziehen Sie sich der Zwangsbeglückung durch die immer mächtiger werdenden Großverlags-Konglomerate. Entdecken Sie mit ihm einen mutigen österreichischen Kleinverlag, wagen Sie den Schritt in andere Welten und zelebrieren Sie den gepflegten Eskapismus. Alltag, Rauchverbot und Gutmenschen-Gehirnwäsche holen Sie ohnehin früh genug ein ...    28.05.2008

Als Privatgelehrter, der zeit seines Lebens mit Büchern zu tun hatte, wird Ihr ganz und gar nicht geneigter Doktor alle halben Jahre auch mit Verlagsvorschauen zugeschüttet. Die stapeln sich dann in seiner Studierstube, halten ihn vom Denken ab und geben so lange keine Ruhe, bis sie auf der Suche nach lesenswertem Material programmgemäß durchforstet sind. Dabei muß der Doc höchst unerfreuliche Tendenzen feststellen, die sich von Mal zu Mal verschärfen:

 

1. Praktisch alle Verlage gehören Random House. Die Verlage, die nicht Random House gehören, fürchten sich vor Random House.

2. Es erscheinen viel zu viele Kinderbücher. Dafür hat der Doc keinerlei Verständnis, da er schon in seinen angeblichen Kindheitsjahren nichts als Erwachsenenbücher lesen wollte.

3. Die Flut des Esoterikschunds, der Lebensratgeber, Reiseführer, Jungeltern-Propaganda und Kochbücher droht alles andere zu überschwemmen. Mit einer Ausnahme, nämlich …

4. ... den Holocaust-Büchern und dem Rest der ewigen Hitlerei. Es kommt einem so vor, als hätte die Nazizeit gestern provisorisch aufgehört, könnte aber morgen schon wieder anfangen. Wahr ist aber vielmehr, daß man für Publikationen dieser Art selbst bei fehlendem Talent stets staatliche und andere Subventionen in den Rachen geworfen kriegt - und sich kein Kritiker etwas dagegen zu sagen traut, aus Angst, umgehend mund- und schrifttot gemacht zu werden.

5. Der Rest sind Frauenthemen, weil irgendwer einmal gesagt hat, daß Frauen das wichtigste Zielpublikum für Bücher sind. Logisch, daß Männer den schicken Schund bestenfalls als Muttertagsgeschenk einkaufen ...

 

Wer will schon in einer solchen Welt leben? Sie vielleicht - der Doc nicht. Und deswegen freut er sich umso mehr, daß er bei seiner Suche nach anderen Welten auf den neuen Grazer Verlag Otherworld gestoßen ist, der sich genau der Themen annimmt, die man für gepflegten Eskapismus braucht: Science Fiction, Horror, Fantasy und Thriller. Geschäftsführer Michael Krug hat viel aus diesen Genres übersetzt und wahrscheinlich genauso entnervt wie der Autor dieser Zeilen festgestellt, daß so manches Lesenswerte nie auf deutsch erscheint, weil die Rotstifte keine Ahnung haben.

Aber jetzt: Brian Keenes Zombie-Romane "The Rising" und "City of Dead" als Doppelausgabe unter dem Titel "Das Reich der Siqqusim" auf deutsch, die jugendfreien und dennoch lesbaren Fantasy-Welten von Dave Duncan, Owl Goingbacks Indianer-Grusler "Crota", Frank Schweizers humorvolle Phantastik "Grendl" - und eine Ankündigungsliste, die selbst einen Trash das Grauen der Vorschaustapel vergessen läßt ...

Der Herbst ist jedenfalls gerettet. Überzeugen Sie sich selbst, auf www.otherworldverlag.com

Dr. Trash

Dr. Trash empfiehlt


erscheint in gedruckter Form in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht. 

Links:

Kommentare_

Print
Klaus Ferentschik - Ebenbild

Doppelgänger-Phantasie

In seinem neuen Roman erzählt Klaus Ferentschik von Spionen, verschwundenen USB-Sticks, Hagelkörnersammlern und Eisleichen. Das Ergebnis ist ein philosophisch-psychologischer Agententhriller, der mehr als doppelbödig daherkommt.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 42

Du darfst ...

Gute Nachricht für alle Desorientierten und von Relikten der Vergangenheit Geplagten: Unser beliebter Motivationstrainer Peter Hiess zeigt Euch einen Ausweg. Und die erste Beratungseinheit ist noch dazu gratis!  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 41

Gleisträume

Will man sich in den Vororten verorten, dann braucht man auch die praktische Verkehrsverbindung. Der EVOLVER-Stadtkolumnist begrüßt den Herbst mit einer Fahrt ins Grüne - und stimmt dabei ein Lob der Vorortelinie an.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 40

Weana Madln 2.0

Treffen der Giganten: Der "Depeschen"-Kolumnist diskutiert mit dem legendären Dr. Trash die Wiener Weiblichkeit von heute. Und zwar bei einem Doppelliter Gin-Tonic ... weil man sowas nüchtern nicht aushält.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 39

Der Tag der Unruhe

Unser Kolumnist läßt sich von Fernando Pessoa inspirieren und stellt bei seinen Großstadtspaziergängen Beobachtungen an, die von ganz weit draußen kommen. Dort wirkt nämlich selbst das Weihnachtsfest noch richtig friedlich.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 38

Schneller! Schneller!

Wie man hört, trainieren US-Soldaten in Manövern für die Zombie-Apokalypse. In Wien scheint sie bereits ausgebrochen. Der EVOLVER-Experte für urbane Beobachtungen weiß auch, warum.