Kolumnen_Miststück der Woche III/4

Seeed: "Beautiful"

Letzte Woche ging es hier zugegebenermaßen recht düster zu, aber eigentlich ist die Welt doch wunderschön - vor allem, wenn man den richtigen Kopfnicker-Groove dazu in sich verspürt. Findet jedenfalls Manfred Prescher ...    08.10.2012

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.

 

Wer sich verstecken will, sucht sich entweder einen großen Baum oder verschwindet in einer Menschenmasse. So macht es auch Enuff.

Was, den kennen Sie nicht? Na ja, eigentlich heißt der Mann ja Pierre Baigorry, aber im deutschsprachigen Raum hat er mit dem Pseudonym Peter Fox so ziemlich alle Rekorde gebrochen, die bis dato die Grönemeyers dieser Welt gehalten haben. Er hat für uns "Schwarz zu Blau" gemacht und plötzlich war "Alles neu". Nebenbei zeigt er uns sein "Haus am See" und damit eine recht coole Version vom Altwerden. Wenn einen der Tod bis dahin nicht dahinrafft, könnte das Leben mit den duftig-fluffigen Orangenbaumblättern wirklich nicht übel sein. Für die 100 Enkel, die im Idyll herumtollen, müßte man freilich Charlie Sheen werden und bei den Vollzugshandlungen permanent auf Verhütung verzichten ...

Auf der neuen Platte von Seeed, die praktischerweise auch nur "Seeed" heißt und so die Gehirnressourcen schont, ist übrigens "Seeeds Haus" zu finden. Dort geht es natürlich ziemlich anders zu als im Rentnerparadies von Fox: sehr zeitgemäß, leicht bekifft und irgendwie sehr schön. Natürlich ist es nachvollziehbar, daß Fox/Baigorry nicht mehr länger den "Stadtaffen" machen will. Womit ich wieder beim Anfang wäre: Im Konglomerat namens Seeed - nur echt mit den drei "e" - kann das Peterle prima verschwinden. Man hört ihn zwar trotzdem raus, aber in der Reggae-Dingenskirchen-Groove-Big-Band ist er offiziell nur einer von vielen.

Auch wenn es sich manchmal so anhört - bei Seeed spielt nicht die gesamte deutsche Reichshauptstadt mit. Ganz Berlin ist zwar eine Wolke, wie der dortige Volksmund immer wieder betont, und die Gruppe schwebt stellenweise auch auf einer, aber so groß ist die Formation dann doch wieder nicht. Gut, manches österreichische Dörfchen im Hochgebirge hat weniger Einwohner als Seeed Mitglieder, doch im Berliner Kollektiv läßt es sich anscheinend trotzdem prima leben.

Die Single "Beautiful" ist daher bezeichnend für ein durchaus befreiendes Lebensgefühl. Ja, eine Gemeinschaft ist herrlich, weil man unter anderem die Lasten des Einkaufs, der Putzerei und des Kochens auf mehrere Schultern verteilen kann. Falls die Ansprüche an Ernährung und Hygiene nicht zu weit auseinanderliegen, ist es schön, sich nicht um jeden Scheiß allein kümmern zu müssen. Und im kreativen Bereich haben Monty Python längst bewiesen, daß eine Gruppe mehr sein kann als die Summe ihrer Einzelteile. Gut, Reinhard Mey sagte mal durchaus treffend "Man merke, im Verein wird keiner alt", aber bis dahin kann es recht fidel sein, ein wenig vom Ego abzugeben und sich in die Gemeinschaft einzufügen.

 

Um Integration geht es angeblich auch im Sport, weshalb das Video zu "Beautiful" folgerichtig im Zuge der umfangreichen Paralympics-Berichterstattung der ARD uraufgeführt wurde. Das Lied entwickelte sich zum mittelgroßen Hit, in Deutschland kamen Seeed damit bis auf Platz 22 der Charts.

Von "Dickes B", "Aufstehn" und anderen Seeed-Klassikern ist der neue Song stilistisch aber lichtjahreweit entfernt. Hier dominiert der Big-Band-Sound und erzeugt kein Reggae-Feeling, dafür eleganten Pop-Glanz. Das wird den einen oder anderen Fan doch vor den Kopf gestoßen haben.

Auch auf dem neuen Album gehen Seeed gewohnt entspannt neue Wege. Die Reminiszenzen an vergangene Tage finden sich in eigentlich nur "Deine Zeit" oder eben in "Seeeds Haus". Im Großen und Ganzen ist "Seeed" halt doch irgendwie die Fortsetzung von Peter Fox´ Hit-Album mit erweiterten musikalischen Mitteln. Schließlich, so wird immer wieder berichtet, herrscht ja Basisdemokratie im Kollektiv - zumindest, bis es ernst wird: dann entscheidet Peter Fox. Womit auch die Struktur dieser Gemeinschaft geklärt wäre.

Nächste Woche soll es an dieser Stelle um einen sehr alten, manchmal gar nicht so arg weisen Mann gehen, der sich noch nie um Vetomächte geschert hat: nämlich John Cale.  Der ist grad irgendwo in einem Knotengeflecht aus Kunst, Kommerz und Krawall gefangen.

 


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER


Manfred Prescher

Seeed - Seeed

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