Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 83

The Bastard Fairies: "Guns And Dolls"

Auf Schleichwegen ins kollektive Musikbewußtsein? Ein US-Pärchen zeigt sich ebenso groß- wie offenherzig und erobert damit zumindest einmal das Herz von Manfred Prescher im Sturm.    04.06.2007

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Den Kaliforniern geht´s zu gut - zumindest denen, die in der sonnenverwöhnten Stadt der Engel wohnen. Sie können es sich leisten, ihr geistiges Eigentum zu verschenken. Und sie verweigern sich so der von der Plattenindustrie angezettelten Diskussion um Urheberrechtsdiebstahl. Weil: Wo es was umsonst gibt, spielt es wenig bis gar keine Rolle, wem das Material gehört. Kostenlose Songs werden nicht von Digital-Rights-Managern bewacht und von irgendwelchen Kopierpolizisten geschützt. Also lassen sie sich beliebig oft vervielfältigen und in Umlauf bringen. Verdient ist dann natürlich erst mal nix, aber der Kalifornier hat´s ja.

Ob Yellow Thunder Woman und ihr Mitstreiter Robin Davey wirklich so reich sind, daß sie es nicht nötig haben, ihre Songs möglichst gewinnbringend zu veräußern, darf allerdings bezweifelt werden. Es ist eher so, daß das als Bastard Fairies aktive Duo darauf setzt, durch die kostenlose Verbreitung seiner CD "Memento Mori" allgemein bekannt und begehrenswert zu werden. Im Unterschied zu meinem britischen Liebling Mika, bei dem von Anfang an Universal Music im Hintergrund mitwerkelte und "Grace Kelly" als Testballon in die virtuellen Lüfte steigen ließ, sind die Fairies auf sich alleine gestellt.

Ihr Weg an die Ohren der Massen ist also um ein Vielfaches länger als der, den Mika gegangen ist. Der hat es verdientermaßen rasch nach oben geschafft, nachdem die Antreiber der Medienmaschine endlich erkannt haben, daß sich über das Internet - und damit über den allmählich zu Siechenstationen der Musikindustrie verkommenen Tonträgerhandel hinweg - auch Nummer-1-Hits generieren lassen. Aber genauso verdient hätten es die sehr, sehr charmanten Perlen der Bastard Fairies, die einen smarten Mix aus Punk und Chanson präsentieren. Besonders "We´re All Going To Hell" und das unbeschreiblich liebliche "Guns And Dolls" sind potentielle Chartbreaker. Gewehre und Puppen - dieser im Lolita-Style hingehauchte "Deadlier Than The Male"-Sixties-Trash mit Barbie-Elementen.

 

Die sanfte Melodie vom "Guns And Dolls" wird sehr luftig instrumentiert, so daß der Song federleicht durch alle musikalischen Instanzen springt. Wesensverwandt ist ebenfalls Madonnas leicht rückwärtsgewandte Stilübung "Hey You". Nicht nur vom Sexappeal des Songs, auch vom Vertriebsweg her: Dieses Lied wurde zunächst ausschließlich und kostenlos über das Web verbreitet. Allerdings nur eine Woche lang. Dieser Zeitraum reicht natürlich, um "Hey You" über alle illegalen Tauschbörsen in Abermillionen Rechnern zu lancieren.

Bei den Bastard Fairies ist es die Maus-zu-Ohr-Propaganda der MySpace-Gemeinde, die für eine beschaulich, aber stetig wachsende Zahl von Fans sorgt. Am Anfang standen die coolen Jungs - wie der umtriebige EVOLVER-Chefredakteur Jürgen Fichtinger, der nicht nur Yellow Thunder Woman akustisch und optisch schnuckelig fand und sich die zwölf Songs von "Memento Mori" sowie das Pin-up-Cover-Artwork (das übrigens von Co-Bastard Robin Davey stammt) sofort heruntergeladen hat. Nein, er wußte natürlich auch, daß er im besten Sinne des Wortes wieder mal an der Spitze der Trendsetter dorthin unterwegs war, wo der Daten-Highway längst zum einsamen Waldweg geworden ist.

Natürlich behielt er seinen Fund nicht für sich, sondern ließ sich zu Recht für seinen geschmackssicheren Spürsinn feiern - und zwar von jedem einzelnen seiner Adlaten. Die haben dann ihrerseits wieder ihr jeweiliges Umfeld beackert und so lange umgegraben, bis auf jeder Scholle das Bastard-Pflänzchen anwuchs und gedieh. So ging es und so geht es weiter. Immer mehr Menschen bekommen "Guns And Dolls" vorgespielt, und natürlich bleibt diese einprägsame Melodie bei ihnen haften - auch weil sie so oft wiederholt wird, bis keine Gegenwehr mehr möglich ist. Das Ding durchdringt irgendwann auch den massivsten Schutzschild. Dann steht Yellow Thunder Woman vor dem Hörer, hält ihm die Strahlenkanone vor die Brust und drückt ab.

 

Mittlerweile zieht die Bastardisierung immer weitere Kreise. Dem Vernehmen nach wurde das Album bereits mehr als hunderttausend Mal herunter geladen. Wer sagt schließlich, daß Gutes immer auch teuer sein muß? Kostspieliger wird es allenfalls für die, denen das Dutzend Freeware-Songs nicht reicht, denn seit 23. April ist auch eine erweiterte Version im Handel.

Jawohl, richtig gelesen: Man muß sie kaufen – und erhält eine richtige CD mit Booklet, Bonus-DVD und vor allem mit fünf weiteren Songs. Bei einem Preis von 16,90 Euro kostet jedes dieser neuen Stücke dann 3,38 Euro. Aber das ist nur fair; man bezahlt einfach die liebgewonnenen Hits im Nachhinein mit. So gesehen ist für jeden Track das übliche iTunes-Salär von 99 Cent fällig. Für den Fan der Bastards ist das gut, da er eine Klangqualität geliefert bekommt, die deutlich über die im Kramladen von Steve Jobs üblichen 128 kbit/s hinausgeht, und das Cover ist zudem viel besser zum Weidenlassen der Augen geeignet als ein pixeliges JPG. Yellow Thunder Woman und Robin Davey profitieren ebenfalls von der CD-Veröffentlichung, denn nun können sie wirklich reich und berühmt werden - mindestens so wie Mika oder gar wie Madonna.

 

PS: Wer sich Zeit nimmt, die Website der Fairies genauer unter die Lupe zu nehmen, wird übrigens nach wie vor auf einige Gratis-Downloads sowie die sehenswerten Videos stoßen. Ob sich dort noch der ganze Langspieler versteckt, verraten wir allerdings nicht ...

 

PPS: Ach ja, EVOLVER is - of course - a bastard!


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

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