Violent Femmes - Crazy
Ohne Plattenfirma (USA 2008)
Diese Single wird garantiert kein Hit, und das ist verdammt schade. Deshalb bricht Manfred Prescher hier eine Lanze für eine längstvergessene Ami-Kombo und ihre klasse Coverversion. 23.06.2008
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Wenn die Welt sonst landauf, landab noch so sehr aus den Fugen gerät und das Fehlen beziehungsweise Ignorieren von Regeln zur allgemeinen Regel wird - beim "Miststück" ist das anders. Diese Kolumne ist ein Ort, an dem sich der Leser auf das Einhalten eines bestimmten Kodex verlassen kann. Ähnlich wie bei der Media-Markt-Werbung gibt´s hier regelmäßig ein "Mog i net", dann noch eins und dann folgt auch mal ein "Des mog i". Weil: Ein "Gschmäckle" (Harald Schmidt) gehört einfach zum "Miststück".
Was wohl keiner unter den elendsschlauen Lesern wissen dürfte: Kein Künstler bekommt zwei Kolumnen, eine muß einfach reichen, um das Wichtigste zu sagen. Das stand für mich schon 2005 fest, als Madonna die Ehre zuteil wurde, das erste in einer langen Reihe von Miststücken zu werden. Was ich aber weder damals noch vorletzte Woche für möglich hielt, ist die Tatsache, daß ich mir jemals überlegen müßte, ein Lied zweimal in die Liste aufzunehmen. Gut, "You´re Beautiful" und "Dieser Weg" nerven mich immer noch, wenn ich sie gezwungenermaßen anhören muß, und Fehlfarben, Jerry Lee Lewis oder Nick Cave gefallen mir nach wie vor ziemlich konstant. Aber deshalb gibt´s noch lange keinen zweiten Aufguß und auch keine Auferstehung der himmlischen Töne.
Mit "Crazy" verhält es sich dann doch anders: Vor knapp 100 "Miststücken", exakt 92, um der lieben Buchhalterseele des Autors genüge zu tun, mußte ich einfach den Bouncing-Bumms von Gnarls Barkley beschreiben. "Crazy" war ja praktisch der groovende Hit des Jahres, ein Muntermacher am Morgen und ein Tanzdielenkracher late at night. Mittags ließ sich prima der physisch-psychische Tiefpunkt "auffe Maloche" (Horst Schimanski) überwinden; der Track war praktisch eine geniale popmusikalische Allzweckwaffe - ein echter Killer.
Jetzt ist das Stück in einer neuen, jedoch eher altmodischen Interpretation wieder da. Ganz ohne den Bumms, doch trotzdem sehr schön. Schade nur, daß von der Aufnahme der Violent Femmes kaum jemand etwas mitkriegen wird, da der Song nur auf den Weiten der mobilen Festplatte von iTunes abgelegt oder per streng auf 50 oder 500 Exemplare limitierter Vinylsingle herausgebracht wird.
Das Trio aus Milwaukee hat nämlich keinen Plattenvertrag. Wie kann das sein, wo doch die "Femmes" mindestens ebenso ein Synonym für die derzeit wieder angesagten 80er Jahre sind wie Prince, Yazoo oder die frühen Depeche Mode? Etwa, weil die College-Post-Punk-Gnarzigkeit des Trios zwischenzeitlich längst erfolgreich von anderen Bands, von den Replacements, die heute auch keine Sau mehr kennt, bis R.E.M., besetzt wurde? Das ist zumindest ein Grund. Ein weiterer liegt in der qualitativen Uneinheitlichkeit der Veröffentlichungen der Violent Femmes.
Das Debüt, mit Hits wie "Gone Daddy Gone", "Blister In The Sun" oder "Please Do Not Go" - nicht zu vergessen die famose Single-B-Seite "Ugly" - ist ein echter Dauerbrenner, der sich seit 1982 Jahr für Jahr gut verkauft. Bereits Ende der 80er Jahre war der Lack der Band aber zum ersten Mal ab. Brian Ritchie, Gordon Gano und Victor DeLorenzo gingen getrennte Wege, veröffentlichten sehr gute und sehr erfolglose Soloplatten, die hoffentlich mal gesuchte Raritäten werden. 1993 traf man sich erneut für ein viertes, merkwürdigerweise mit "3" betiteltes Album. Dann wurden die Pausen noch länger, Drummer DeLorenzo verabschiedete sich gar bis 2002 komplett von der Band, deren Name im Cajun-Slang "Muttersöhnchen" bedeutet. Die letzte offizielle CD "Freak Magnet" stammt aus dem Jahr 2000; ein Jahr später geisterte ein MP3-Album namens "Something Wrong" durch das Netz. Weil "Album" und "MP3" eigentlich konträre Begriffe sind, interessierte das auch niemanden mehr.
Soweit also die merkwürdige Geschichte einer insgesamt doch coolen Band - und an dieser Stelle könnte man den Sargdeckel schließen und die Femmes auf dem Friedhof der Nuscheltiere begraben. Aber Totgesagte leben oft länger - ein Umstand, der nicht nur Amy-Fans zu hoffen geben sollte. Die Welt ist schließlich nicht nur regellos, sondern auch komplett crazy. Und dann können auch Wunder geschehen, sogar so unglaubliche, daß man direkt wieder an Bruder INRI glauben würde. Genau ein solches Mirakel wäre es, wenn die Violent Femmes mit ihrer kantigen Schrummelversion von "Crazy" den eigentlich verdienten Lorbeer ernten und wenigstens halb so erfolgreich wie seinerzeit im Mai Gnarls Barkley werden könnten. Weil aber Marktgesetze nun mal so sind, wie sie sind, wird es allein mit dem Apple-Shop und einer Handvoll PVC-Scheiben nicht klappen. Das hätte den dreien auch ein Zwiegespräch mit dem Marx Karli sagen können, aber auf den hört ja eh niemand mehr (wahrscheinlich, weil die meisten meinen, "Winnetou" habe zu wenig Action und Bully Herbig ohnehin schon alles zu dem Thema gesagt).
Auf jeden Fall ist "Crazy" in der im gemächlichen Trab vor sich hinreitenden Landler-Variante deutlich näher am Häuptling der Apachen als an aktuellen, urbanen Sounds. Weil aber aus den Städten nur neuer Verpackungsmüll kommt, in dem zwischenzeitlich alte Kamellen eingedreht waren, klingen die Violent Femmes sogar richtig frisch. Schuld daran sind der typische Baß-Twang von Ritchie, der ebenso typische kraftvoll-nölende Nuschelgesang von Gano und naturellehman die verdammt geniale Komposition von Gnarls Barkley. Ein guter Song bleibt halt ein guter Song. Oder, um es mit meinen eigenen Worten zu sagen: "Zugrunde liegt ihm eine einfache Komposition von solch schlichter Eleganz, daß sie fast schon an die Motown-Klassiker aus der Feder von Holland-Dozier-Holland erinnert."
Nächstes Mal erfülle ich an dieser Stelle übrigens ausnahmsweise mal den Wunsch eines geneigten Lesers: "Schreib doch mal was über die Tindersticks." Das mache ich. Bleibt zu hoffen, daß ich rechtzeitig in die dazu passende melancholische Stimmung komme.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
Violent Femmes - Crazy
Ohne Plattenfirma (USA 2008)
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 17. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Ina Müller.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 16. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Deine Freunde.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 15. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Ava Vegas.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die sechste Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Elvis Costello.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die fünfte Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Lana Del Rey.
Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die vierte Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Charlotte Brandi & Dirk von Lowtzow.
Kommentare_
Den ganzen Song auf myspace.com hören:
http://profile.myspace.com/index.cfm?fuseaction=user.viewprofile&friendid=384809126