Kolumnen_Miststück der Woche II, Pt. 3

Adele: "Hometown Glory"

Das Jahr der Frauen in der Popmusik neigt sich dem Ende entgegen. Doch was kommt danach? Manfred Prescher geht jede Wette ein, daß auch 2008 wieder den Ladies gehören wird.    05.11.2007

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Da kann Herr Gallagher noch so sehr den Herrgott des Britpop anrufen, wie er es auf der neuen Single "Lord Don´t Slow Me Down" tut. 2007 war nicht sein Jahr - und auch nicht das seiner männlichen Kollegen im Ray-Davies-Geist. Mehr zu Oasis gibt es zwar im nächsten "Miststück", aber eines schon vorweg: gar nicht mal schlecht, der frisch zusammengeklaute Song; aber eben nicht gut genug, um den Trend zu stoppen. Die Pop-Meilensteine aus dem Vereinigten Königreich setzten dieses Jahr tatsächlich in erster Linie Künstler, die im Alleingang ihren mehr oder minder autistischen Kosmos vor uns ausbreiteten. Ob der Anteil an Frauen statistisch höher war als in den Vorjahren, kann ich zwar nicht sagen, aber der Eindruck drängt sich doch auf. Woran natürlich besonders Amy Winehouse und Kate Nash Schuld sind ...

Kann es Zufall sein, daß die beiden hochbegabten Mädels aus London kommen? Nein, da steckt ein Masterplan dahinter. Und mit Adele, gesprochen übrigens "Ahdell", kommt eine weitere junge Frau mit kolossaler Wucht auf uns zu. Auch sie ist in der britischen Hauptstadt geboren und mit 19 sogar noch juveniler als Nash. Im Vergleich zu ihr muß sich Amy Winehouse mit ihren 24 fast schon steinalt vorkommen.

 

Ich wage hiermit eine Trend-Prognose und lasse mich auch gern vom Leser darauf festnageln: Adele wird im nächsten Jahr groß herauskommen und dafür sorgen, daß der Lauf der Londoner Ladies anhält. Im Traum verfolgt mich, spätestens seit ich "Hometown Glory" gehört habe, eine Vision, in der Adele nur die Vorhut einer gigantischen Invasion bildet. Ich sehe ein riesiges Fabrikareal irgendwo in der englischen Metropole vor mir. Der Moloch spuckt immer neue Künstlerinnen aus und erobert mit dieser Wohlton-Armee die Welt. Bald sind in jedem Haushalt zu finden, in Unmengen wie Playmobil-Männchen.

Das wäre aber gar nicht mal so schlimm. Erstens sind die neuen Modelle in Ausführung und Ausgestaltung ja viel ansehnlicher als die beinsteifen Plastefiguren und damit zweitens weit weniger uniform. Genau das ist der Grund, warum ich Amy und Co. - hier wollte ich eigentlich "Amy und ihren Wildgänsen" kalauern - Unrecht tue. Natürlich ist ihr großes Plus, daß sie auf sehr eigenständige Art Anständiges zu Wege bringen. Von dieser Armee kann man sich mit Freude besetzen lassen. Adele kann also kommen - und genau das wird sie tun.

Betrachtet man es Pop-anthropologisch, ist Adele exakt das Missing link zwischen Kate Nash und Amy Winehouse. Wie Kate hat sie eine Vorliebe für ausgefallene Folk- und 80er-Jahre-Indie-Sounds; mit Amy wiederum verbinden sie die warme Stimme und der phantastische Groove, den sie damit hinbekommt. Mehr Seele gibt es sonst nur im Himmel oder bei Aretha Franklin, was für Soul-Fans in etwa gleichbedeutend ist. Die Worte "Hometown Glory" klingen zwar sehr nach Bruce Springsteen, das Lied selbst ist aber ein Ohrwurm, der Motown-Schmiß mit Byrds-Idealen verbindet.

Adele wirkt wie die brave kleine Schwester von Amy. Spritzbesteck und Raketentreibstoff für bunte Galaxien sind noch in weiter Ferne, dafür gibt´s Katzenposter und Babyspeck, das heißt, die eigene Welt beschränkt sich auf das Mädchenzimmer im elterlichen Reihenhaus. Und der Schulweg ist wahrscheinlich der einzige Zugang in fremde Universen. Zumindest signalisiert uns dies ihre an die Reinheit der frühen Diana Ross erinnernde Stimme. In Adeles zauberhaftem Soulsong beschreibt sie eine Zeit, in der die Erinnerungen an die Kindheit frisch sind und die Suche nach einem Platz im Leben noch nicht abgeschlossen ist. Über diese kurze Lebensphase soll es, wie sie in einem Interview sagte, auf dem kompletten, im Frühjahr 2008 erscheinenden Album gehen.

Auf der Vinyl-Single "Hometown Glory" klingt der Reifeprozeß wirklich selbstbewußt und klug: " 'Is there anything I can do for you dear? Is there anyone I can call?'/'No and thank you, please Madam. I ain´t lost, just wandering' ". Den Weg in die Zukunft muß sie alleine gehen, genau wie ihre Schwestern Amy und Kate vor ihr - im Gegensatz freilich zu den Gallagher-Brüdern, die immer schon in Freud und Leid aneinanderklebten, wie zwei Playmobil-Jungs, die ein Monat lang gemeinsam auf einer Likörlache eintrockneten.

 

Was 2008 mit Adele passieren wird, ist klar: "Hometown Glory" wird ein erster Top-Hit, dem ein Soul-Album namens "19" folgen wird. Die CD wird randvoll mit betörenden Stücken sein, weil Mark Ronson, der in New York lebende Londoner (!) Produzenten-Genius, seine Hände im schönen Spiel haben wird. Und Ronson hat auch schon Amy zum Tönen gebracht ...

In diesem Zusammenhang fällt mir ein, daß während der Hysterie um das zweite Winehouse-Album "Back To Black" noch eine weitere Kollaboration zwischen Amy und Mark bislang fast untergegangen ist: Auf dessen CD "Versions" singt er mit der Diva gemeinsam den Zutons-Song "Valerie". Da ist zu hören, wie Amy klingen wird, wenn sie - was wir ihr gefälligst alle wünschen sollten - dereinst so alt ist, wie Aretha heute, nämlich 65: wie eine Jazz-Sängerin von der Größe einer Ella Fitzgerald. Bei Adele ist es natürlich noch zu früh, eine Prognose über den Verlauf der Karriere abzugeben, aber eines steht fest: 2008 gehört ihr. Und ihrer weiblichen Londoner Verwandtschaft.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Adele - Hometown Glory

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Pacemaker Recordings/XL Records/Import (GB 2007)

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