Kolumnen_Miststück der Woche II, Pt. 20

Hercules And Love Affair: "Blind"

Die Weltjugendspiele 2008 werden mit forschen Fanfarenstößen eröffnet. Im sportlich fairen Wettbewerb mißt man sich von nun an in den Disziplinen "Hedonismus", "Freistil-Disco" und "Coolness" - berichtet Manfred Prescher.    07.04.2008

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder. 

 

Mit Herkules/Herakles verbinden die meisten Menschen einen mißglückten Disney-Film und siedeln die Story daher in der Entenhausener Gegend an. Ein wenig bürgerlicher Bildungs-Impetus ist halt schon nötig, um den erstgeborenen Zwillingsbruder des Iphikles der Antike zu- und ihn dort sinnvoll als Sohn von Zeus und Alkmene einzuordnen. Wer soweit ins Altgriechische hinabsteigt, weiß natürlich auch, daß "Herc" einen derart traumhaften Body hatte, daß selbst Russell Crowe vor Neid erblassen dürfte. Kein Wunder also, daß ihm der Sage nach die Mädels zu Füßen lagen und sich - jetzt etwas freier interpretiert - gemeinsam mit den vom anderen Ufer herübergesegelten Männern trafen, um lüsterne Blicke auf den Knackarsch des altertümlichen Bodybuilding-Heroen zu werfen. So einen würde man(n) nicht vom Lager stoßen. Der Typ schreit förmlich aus jeder Phase seines Körpers nach einer love affair. Womit klar ist, daß der Name Hercules & Love Affair perfekt zum Sound des homosexuell ausgelegten New Yorker House- und Disco-Projekts paßt.

 

Daß D.I.S.C.O. mittlerweile eine schwule Domäne ist, wurde an anderer Stelle ("Miststück der Woche" 47) aus damals wie heute gegebenem Anlaß ausführlich erläutert. Im Gegensatz zu den Scissor Sisters schielen Hercules und Co. aber nicht auch noch direkt auf die präferenzübergreifenden Pop-Charts - und werden mit "Blind" deshalb genau da landen. Intelligenter war der Tanz ums glitzernde Kalb nämlich seit den Zeiten, als Rick James noch durch die Nacht stolzierte, nicht mehr.

DJ Andy Butler, der Kopf der eher als lose Verbindung zu bezeichnenden Formation, hat einen Schmelztiegel zusammengerührt, der neben dem bewährten, hier etwas vertrackteren Hops-Rhythmus auch noch die Elektro-Grooves der 80er Jahre und vor allem deutliche Anklänge an den House Sound Of Chicago, wie ihn Frankie Knuckles oder Marshall Jefferson einst entwickelten, enthält. Man hört also auch Anklänge von Kraftwerk im Style von Hercules - was man als technikgläubiger Mensch immer noch und immer wieder gut finden sollte. Damit macht man sicher nicht nur dem geschätzten EVOLVER-Kollegen Andreas Winterer eine Freude.

 

Richtig lebendig wird der Sound der Love Affair durch die Sänger, die sich Andy Butler aussucht. Bei "Blind" und vier weiteren Tracks ist das Antony Hegarty (siehe "Miststück der Woche" II, Pt 8), der bis dato als bester Jammerlappen jenseits von Marc Almond gelten darf. Der Mollton-Interpret zeigt, daß sein warmes Ziegenmeckern nicht nur Trauer, Schmerz und Seelenpein so umsetzen kann, daß die Haut ausschaut, als sei sie die eines Hähnchens, das gleich in den Grill wandert. Selbst "Knockin´ On Heaven´s Door" gewinnt durch diese einzigartige Stimme eine nie geahnte Zusatzqualität - und über sein Duett mit Boy Schorsch ("You Are My Sister") kann man nur ins Schwelgen geraten. Aber - und das ist wirklich ebenso verwunderlich wie wunderbar - Antonys sanftes Organ verleiht einem Disco-House-Stück einen enormen Extraglanz. Da wird selbst der abgefuckteste Club zum eleganten Tanzpalast. Obwohl: So verwunderlich ist es eigentlich doch nicht, daß der Bocksgesang jenseits der 90 bpm noch funktioniert; die Bee Gees eroberten die Tanzflure ja auch mit einem sehr ungewöhnlichen Stil, dem einmaligen Eunuchenfalsett von Barry Gibb. Die Brüder aus down under haben bei ihrem Glitzerkugel-Comeback allerdings bewußt auf Robins bewährtes Meckern ("Mä-hä-hä-sä-tschussetts") verzichtet.

Antony macht es nun möglich, daß sich musikalisch nicht völlig unterbelichtete Menschen vorstellen können, wie "Jive Talkin´" oder "Tragedy" mit den Lead-Vocals von "New York Mining Desaster 1941" klingen würden. In der Konzertpraxis bekommt Robin Gibb das übrigens nicht hin, was jedoch daran liegt, daß er sich verbiegt und versucht, ohne Sauerstoffgerät einen stimmlichen Achttausender zu erklimmen, statt auf die eigene Stimme ("Mä-hä-hä-sä-tschussetts") zu setzen. Genau das tut Hegarty stilsicher und ohne sich einer Stilvorgabe unterzuordnen. Dadurch werden Zeilen wie "I wish the light could shine now/For they are closer/They are near/But they will not present my present" zum wesentlichen Teil des groß angelegten Party-Arrangements von Andy Butler - und nebenbei wird das Album, das auch nur "Hercules And Love Affair" heißt, so garantiert der größte Erfolg des rührigen New Yorker DFA-Labels. Man wird davon mehr verkaufen als von der sehr guten CD des LCD Soundsystems und allen Remixes für Goldfrapp, Le Tigre, die Gorillaz oder Nine Inch Nails zusammengenommen.

Irgendwann wird dann zwar jemand "sell out!" rufen, aber bis dahin laßt uns feiern, Brüder und Schwestern! Von mir aus dürft ihr gern dabei dem nächstbesten Herc auf den Bürzel gucken ... Nächste Woche geht´s an dieser Stelle übrigens um ein Duett zwischen "uns" Udo und Jan Delay - und das ist gar nicht mal so anders als "Blind" geworden.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Hercules And Love Affair - Hercules And Love Affair

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DFA Records/EMI (USA 2008)

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