Kolumnen_Miststück der Woche II, Pt. 59

Peter Doherty: "Last Of The English Roses"

Es ist schon überraschend, daß ausgerechnet das Enfant terrible der britischen Klatschkolumnen quasi nebenbei richtig gute Musik macht. Ein echtes Wunder - findet unser Experte Manfred Prescher.    20.04.2009

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

 

Neulich, vor dem Konzert von Bob Dylan, fragten sich zwei Mümmelgreise, ob denn der Alte den Gig überhaupt durchhalten könne. Was natürlich insofern blöde war, weil Onkel Robert ohrenscheinlich fit wie ein Turnschuh die Auftritte der "Never Ending Tour" absolviert - hat doch der Zausel mehrere Jahrzehnte voller Exzesse überstanden. Getreu dem Motto: Was mich nicht umbringt, macht mich widerstandsfähiger. Schließlich gab manch einer seiner Kollegen den Löffel so vorzeitig ab, daß noch nicht mal der letzte Ton von "All Along The Watchtower" verklungen war.

Wer schnell lebt, stirbt oft früh - eben "shoot your brain like Kurt Cobain". Und man kann sich so allerhand direkt in die Birne schießen, auch über den Umweg Venen-Highway. Insofern ist es ein Wunder, wenn einer die private Sturm-und-Drang-Ära überlebt. Deshalb wäre die bezüglich Bob Dylan gestellte Frage sicher noch besser auf Pete(r) Doherty anzuwenden. Der steht nämlich noch mitten in der Blüte seiner Jahre - oder bis zum Hals in den Blüten verschiedener seltsamer Pflanzen aus der Gegend rund ums Mekongdelta. Wenn man der britischen Skandalpresse glauben darf, hat der immerhin auch schon 30jährige Ex-Chef der Libertines außer Liebesbriefe an Amy Winehouse so ziemlich alles eingeworfen.

Schon während der durchaus auch musikalisch interessanten Phase mit seiner wunderbar schroffen Gitarrenkombo war Doherty unser aller Lieblings-Hasch-Puppy. Er konnte nun mal selbst in zornigen Momenten so schön traurig schauen, wie man halt schaut, wenn man zum wiederholten Mal auf den Grund des Ethanolglases geblickt hat. Sein zweites Projekt, die Babyshambles, halte ich nach wie vor (vergleiche hierzu "Miststück der Woche" Numero 5) für völlig überbewertet: hingerotzter Drogenauswurf eines Mannes, der schon mit 17 einen Poesiewettbewerb für verschwurbelte Teenager gewonnen hat. Umso erstaunlicher ist das völlig unerwartet auf uns zugerollte Soloalbum, das den schönen Elvis-trifft-Paul-Simon-Titel "Grace/Wastelands" trägt und auch ansonsten richtig gut geworden ist. Mehr noch: Es ist definitiv ein Meisterwerk, das mit großer erzählerischer und kompositorischer Wucht auf den Zuhörer trifft. Besonders berührend sind die ruhigen Momente, von denen es auf der eher akustisch eingespielten Platte so einige gibt.

 

Englische Rosen sind - so erklärt das zumindest Wikipedia - eine Kreuzung aus "verschiedenen alten Rosen und modernen Teehybriden und Floribundarosen". Die erste hat übrigens ein in Züchterkreisen hochverehrter Herr David C. H. Austin im Jahre 1963 vorgestellt. Möglicherweise ist nun ein Ende mit Dornen in Sicht, denn Doherty besingt die letzte der englischen Rosen. Wahrscheinlich geht es mit ihr zur Neige, weil der Boden ausgelaugt ist und sie sich nicht so einfach entwurzeln läßt, geschweige denn in der Lage ist, selbständig nach neuem Lebensraum zu suchen: "Ah sometimes you can´t change/There´ll be no place".

Der Text beschreibt natürlich eigentlich ein Mädchen, vermutlich aus irgendeiner kargen britischen Landszenerie in Pete Dohertys Heimat Northumberland: Sie trägt Mutters Schal und die Hose der Tante, lacht lauter als alle anderen - und in die global denkende Welt der gierigen Kapitalisten verpflanzen läßt sie sich nicht, weil sie lieber Landpomeranze bleibt. Diese ebenso idyllische wie letztlich traurige Geschichte eines (noch) lebenden Anachronismus singt Pete mit einer Stimme, die in ihrer Wärme, ihrem Spott und auch in ihrer Trauer ganz klar an Ray Davies erinnert. Was latürnich (Obelix in "Die Lorbeeren des Cäsar") prima paßt, da auch der Kinks-Boß ein Meister der Beschreibung typisch englischer Lebensumstände ist.

"Last Of The English Roses", zu Recht als erste Single aus dem großen Werk ausgekoppelt, bietet auch eine Melodie, wie sie auf "Something Else By The Kinks" passen würde. Zwischen "Harry Rag" und "Tin Soldier Man" auf Seite 1 der LP oder auch zwischen Dave Davies´ "Funny Face" und "End Of The Season" von Seite 2 wäre ein idealer Platz für Dohertys Kleinod. Aber warum denn in die historische Ferne schweifen? Eingerahmt vom Opener "Arcady" und dem mächtigen "1939 Returning", gedeiht die letzte Rose doch auch überaus prächtig ...

In 14 Tagen werde ich mich an dieser Stelle mit einer besonders für Wetterumschwünge anfälligen Pflanze beschäftigen: der Demokratie. Anlaß ist die neue Live-CD/DVD von Leonard Cohen.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Peter Doherty - Grace/Wastelands

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