Kolumnen_Rez gscheid!

Folter ...

... erfreut sich seit Menschengedenken großer Beliebtheit. Die Ahnen der Betreiber von Guantanamo und deutschen Privatfernsehsendern haben sogar im Wienerischen ihre Spuren hinterlassen.
   01.10.2009

"Languages matter!" wußte die UNESCO, als sie das Jahr 2008 zum "International Year of Languages" erklärte. Wir meinen: Ein Jahr ist längst nicht genug. Unser Sprachexperte Dr. Seicherl widmet sich daher weiterhin dem Österreichischen, genauer gesagt: der proletarisch korrekten Sprache im Alltag. Warum? Das erfahren Sie hier.

 

Wienerisch im Alltag: Dr. Seicherls gesammelte Lebenshilfe finden Sie hier.

 

=============================================================

 

Lieber Herr Doktor,

Neulich im Höpflerbad: Kinder spielen. Wer dran ist, wird an Händen und Füßen hin und hergeschwungen und ins Wasser geworfen. Der Badewaschl: verbietet. Zu meiner Zeit nannten wir es "Bäckerschupfen". Frage: Was haben Bäcker mit Wasser zu tun?
Grüße, Lutz

 

*****************************************

Dr. Seicherl antwortet:

Sehr geehrter Herr Lutz,

diesem Kinderspiel liegt eine bei uns bis ins 18. Jhdt. gebräuchliche Bestrafung zugrunde: Bäcker, welche schlechte oder zu kleine Brotlaibe verkauften, wurden in einem Käfig öffentlich in ein nahegelegenes Gewässer getaucht.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. S

*****************************************

Erläuterungen:

schupfm: Holzhütte (zu Lagerzwecken); sanftes Hochwerfen

Auch wenn aktuell eine niederösterreichische Bäckerei diese Maßregelung als "Zunftweihe" verharmlost und werbewirksam "Schupfen Sie mit!" textet, dürften es die Betroffenen seinerzeit wenig amüsant gefunden haben, in einem Gitterkäfig coram publico einer Prozedur unterzogen zu werden, welche Ähnlichkeiten mit dem nautischen "Kielholen" aufwies. Eine Volksbelustigung war es jedoch auch damals schon, zumal der Delinquent nicht immer überlebte. In Wien wurde die Bestrafung 1773 von Josef II. abgeschafft.
Anmerkungen: In früherer Zeit scheint man größeren Wert auf qualitativ hochwertige Nahrungsmittel gelegt zu haben als heute - zumindest, wenn die Strafe für Zuwiderhandelnde als Gradmesser herangezogen wird. So soll es in Konstantinopel Usus gewesen sein, betrügerische Bäcker mit einem Ohr an die Tür ihres Geschäftslokals zu nageln.
Noch drastischer wurde vor annähernd vier Jahrtausenden in Babylon eingeschritten, wenn Bierbrauer Minderwertiges ausschenkten. (Bäcker waren seit jeher meist auch Brauer, da die Hefebakterien - von deren Existenz man bis in die Neuzeit nichts ahnte - für erfolgreiche Gärung sorgten.) Im Codex Hammurabi ist sinngemäß zu lesen: "Bierpanscher werden in ihren Fässern ertränkt oder so lange mit Bier vollgegossen, bis sie ersticken."
Angesichts des Sortiments vieler Supermärkte - oder gar gewisser Schnellrestaurants - wäre es eine interessante Vorstellung, welche logistischen Probleme das bekaschupfm heutzutage verursachen würde.

====================================

 

Werter Herr Dr. Seicherl,

als ich in jungen Jahren eine etwas eigenwillige Mode pflegte, sprach meine Frau Mama oftmals "Da steig´n mir die Grausbirn´ auf!", wenn sie meine Kleidung sah. Die Bedeutung ihrer Aussage habe ich wohl verstanden, aber was sind "Grausbirnen" eigentlich?

Schöne Grüße,
Bernhard Schäfer

*****************************************

 

Dr. Seicherl antwortet:

Sehr geehrter Herr Schäfer,

das ist in der Tat eine interessante Frage. Vermutlich handelt es sich um eine Anspielung auf ein mittelalterliches Instrument zur "peinlichen Befragung". Näheres dazu finden Sie im folgenden.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. S

*****************************************

 

Erläuterungen:

So geläufig die Sentenz do schteign/gengan ma de grausbirn auf dem Wiener ist, so unterschiedlich wird ihre Herkunft begründet.
Da werden zum Beispiel imaginäre "Grausbeeren" als Namensgeber geortet, oder das mittelhochdeutsche grauß ( = Korn/Körniges). Letzteres findet sich zwar in Worten wie grias (Grieß) und dem davon abgeleiteten griasln ( = "körnig sein"; etwa auf die Bildschirmdarstellung analog ausgestrahlter TV-Bilder bezogen); die Assoziation zum hier erörterten Terminus klingt allerdings etwas weit hergeholt: Die kleinen, harten Bestandteile einer Mostbirnenart sollen an "Hautschauder" gemahnen (wien.: ganslhaut).
Wahrscheinlicher ist die Herleitung von einem Folterinstrument, welches auch unter der Bezeichnung Mundbirne bekannt ist: ein via Gewinde aufspreizbarer Metallknebel, wie man ihn im Museum der Festung Salzburg besichtigen kann.
Anmerkungen: Zur Erzwingung von Geständnissen dürfte dieses Instrument ebensowenig geeignet wie gedacht gewesen sein, da es prinzipbedingt artikulierte Äußerungen unmöglich macht. Moderne Varianten finden ihre Anwendung - in entsprechend schonenderer Form - heute im Bereich spezifischer sexueller Praktiken (Dehnung von Körperöffnungen).
Daß derlei auch den Bedürfnissen christlicher Religionsbediensteter entgegengekommen sein mochte, legt unter anderem ein angeblich im Kriminalmuseum Rothenburg aufbewahrtes Protokoll eines Hexenprozesses aus dem 17. Jhdt. nahe: Besagtes Utensil soll dabei über mancherlei Zugänge dem Auffinden noch im Körper befindlicher Teufelswesen und Dämonen gedient haben. (Die Einwohner dieser deutschen Stadt rühmen sich bis heute ihres fränkisch "verschmitzten Humors". Ob die Dame den seinerzeit überlebt hat, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis.)

Dr. Seicherl

Rez gscheid!

Proletarisch korrekte Sprache im Alltag


Sie haben spezielle Fragen? Sie interessieren sich für die Herkunft einer Phrase? Sie haben keine Ahnung, was Ihnen Ihr unhöflicher Nachbar zu den unmöglichsten Tageszeiten zuruft? Zögern Sie nicht - schreiben Sie Dr. Seicherl unter Dr.Seicherl@gmx.net, oder hinterlassen Sie einfach einen Kommentar.

Links:

Kommentare_

Kolumnen
Rez gscheid!

Blut und Granaten

Keine Sorge: Unser Sprachexperte ist wohlauf; die Überschrift ist mehr im etymologischen Sinne zu verstehen. Diesmal geht es nach Griechenland, Spanien und ... nun, lesen Sie selbst.  

Kolumnen
Rez gscheid!

Böhmische Dörfer

Gemäß amtlicher Statistik war Wien vor 100 Jahren die "zweitgrößte tschechische Stadt Europas". Und auch ein Blick in das heutige Telefonbuch zeigt: Böhmen und Mähren haben mehr hinterlassen als Powidl und Budweiser.  

Kolumnen
Rez gscheid!

Proletarischer Index

Dr. Seicherl und der EVOLVER präsentieren: das Nachschlagewerk unseres Wiener Sprachressorts! Hier finden Sie alle Ausdrücke und Wendungen, die unser Linguist bislang einer näheren Erörterung unterzog.
Schauen Sie nach ...  

Kolumnen
Rez gscheid!

Kroaten und Italiener

Das Wienerische differiert nicht nur von Bezirk zu Bezirk. So kann es passieren, daß eine Wendung auftaucht, die selbst unserem Sprachressort unbekannt ist. Wissen Sie mehr?  

Kolumnen
Rez gscheid!

Heiß und fettig

Der Würstelstand ist eine Wiener Institution, deren Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Was Sie über diesen essentiellen Mikrokosmos auch in sprachlicher Hinsicht wissen müssen, erfahren Sie hier - ausführlich erläutert von unserem Linguistikexperten.  

Kolumnen
Rez gscheid!

Juden und Alemannen

Wien war immer schon eine Stadt der vielen Völker. Zentrale Kulturgüter wie Küche oder Sprache verdanken das Ortstypische gerade den Beiträgen der Zugezogenen. Manche unter ihnen dürften hier jedoch nie heimisch werden.