Kolumnen_Rez gscheid!

Kroaten und Italiener

Das Wienerische differiert nicht nur von Bezirk zu Bezirk. So kann es passieren, daß eine Wendung auftaucht, die selbst unserem Sprachressort unbekannt ist. Wissen Sie mehr?    04.06.2010

"Languages matter!" wußte die UNESCO, als sie das Jahr 2008 zum "International Year of Languages" erklärte. Wir meinen: Ein Jahr ist längst nicht genug. Unser Sprachexperte Dr. Seicherl widmet sich daher weiterhin dem Österreichischen, genauer gesagt: der proletarisch korrekten Sprache im Alltag. Warum? Das erfahren Sie hier.

 

Wienerisch im Alltag:  Dr. Seicherls gesammelte Lebenshilfe finden Sie hier.

 

=============================================================

 

Sehr geehrter Herr Doktor!

 

Jüngst habe ich im Gespräch mit meinen Geschwistern längst vergessene Aussprüche meines Vaters reflektiert: "Wenn ned boid a ruh is, werd i krawutisch!" und: "Lassts mi in ruh, I hob die Bokerlfraßen" - als Kinder haben wir zwar immer gewusst, dass es gscheiter ist, brav zu sein, wenn der Vater derart die Stimme erhob, was aber jetzt "krawutisch" konkret bedeutet bzw. was "Bokerlfraßen" sein sollen, konnten wir bis heute nicht entschlüsseln. Interessantes Detail: der Vater erfreut sich hohen alters bester Gesundheit und Agilität - trotzdem hat er selbst keine Ahnung, wie er die beiden Ausdrücke übersetzen soll ...

 

vielen Dank für Ihre Antwort und lieben Gruß,

Konrad Blahowez

*****************************************

Dr. Seicherl antwortet:

Sehr geehrter Herr Blahowez,

vielleicht wird es Ihren Herrn Papa freuen, zu erfahren, daß er sich sowohl sprachlich als auch inhaltlich völlig korrekt ausgedrückt hat. Offenkundig wurde die Botschaft zudem richtig verstanden - nähere Details finden Sie im folgenden.

Mit besten Grüßen an die Familie
Dr. S

*****************************************

Erläuterungen:

Beim Ausdruck grawutisch handelt es sich um ein scherzhaftes Kompositum mit "Wut": das althochdeutsche wuot (= unsinnig) oder das gotische wōds (= besessen) erinnern dabei, ebenso wie das altenglische wōd (= rasend), an die germanische Gottheit Wotan. Bei jenem wienerischen Adjektiv jedoch stand ein Volk des nahen Südens Pate: nämlich die Kroaten (wien.: grawodn), denen man seit alters her ein überschäumendes Temperament attestierte.

[Anmerkungen: Besagter slawischer Stamm - oft unter tschuschn subsummiert - leistete ungeachtet dessen einen dauerhaften Beitrag zum Erscheinungsbild unserer Zivilisation; in Form eines geknoteten Halstuches, im deutschen Sprachraum als Krawatte bekannt (wien.: grawatl). Unverständnis für andere südländische Gepflogenheiten scheint sich hingegen in grawodisch zu spiegeln (= verkehrt, von hinten); siehe dazu Hans Moser, als er weiland über die Transportmöglichkeiten eines Koffers sinnierte: "Wie nema man denn? ... Auf grawodisch!"]

 

Die bokerlfrasn wiederum basiert auf einem laienmedizinischen Sammelbegriff. Als "Frais(en)" bezeichnete man ursprünglich Krampfanfälle bei Kindern, wie sie etwa im Zusammenhang mit Fieber auftreten können; ebenso wie die schnakerl- und die gogerlfras wurde das Krankheitsbild offenbar auf traumatische Erlebnisse zurückgeführt (vgl. mhd.: vreise = das Erschrecken, ahd.: freisa = die Gefahr). Die erstgenannte Diagnose beschreibt dabei den klinisch schwersten Fall: bokerl leitet sich von pulyka her, der ungarischen Bezeichnung für Truthahn - dem man nachsagt, beim geringsten Anlaß außer sich zu geraten.

[Anmerkungen: Der - abgefallene - Föhrenzapfen verdankt seine gleichlautende Bezeichnung vermutlich dem Umstand, daß er von oben betrachtet gewisse optische Ähnlichkeiten mit dem gespreizten Bürzelschmuck eines Puters aufweist. In ähnlichem Zusammenhang wurde das Thema übrigens bereits hier besprochen.]

 

 

====================================

 

Sehr geehrter Herr Dr. Seicherl!

 

Als erstes vielen Dank für Ihre hervorragende Kolumne über das Wienerische, die zugleich äußerst unterhaltsam und interessant ist.

Während meiner Schulzeit haben wir Schwitzflecken unter den Achsel als "Fuff'zga" oder pseudoitalienisch als "tschinkwetschento" bezeichnet. Ist das eigentlich ein geläufiger Begriff und wenn ja, woher stammt er?

Vielen Dank für Ihre sicherlich scharfsinnige Analyse im Vorhinein.

 

Mit freundlichen Grüßen

Helmut Herglotz

 

*****************************************

 

Dr. Seicherl antwortet:

 

Sehr geehrter Herr Herglotz,

zu meinem großen Bedauern muß ich gestehen, daß mir die von Ihnen genannten Formulierungen im Zusammenhang mit Achselschweiß unbekannt sind. Auch meine Recherchen in einschlägig gebildeten Zirkeln brachten bislang kein Ergebnis.

Ich kann an dieser Stelle nur noch an die Leserschaft appellieren; falls es sich nicht bloß um eine kurzlebige, lokal begrenzte Ausformung von Jugendsprache handelte, weiß vielleicht jemand anderer mehr darüber zu berichten (im Folgenden finden Sie einige Überlegungen zur theoretischen Herleitung).

 

Mit freundlichen Grüßen
Dr. S

 

*****************************************

 

Erörterungen:

 

Unter fufzga versteht man im allgemeinen einen Geldschein; als foischa fufzga wird eine hinterhältige Person bezeichnet (vermutlich seit dem 19. Jhdt., als die 50-Gulden-Note einen beträchtlichen - und somit fälschungswürdigen - Gegenwert darstellte). Der Begriff tschinkwe für Belangloses respektive Minderwertiges dürfte weniger auf die schlechteste Schulnote reflektieren ("Fünfer", wien.: binsch) als auf die geringe Kaufkraft der ehemaligen italienischen Lira (lat.: quinque = fünf).

Fünfzig heißt bei den Nachfahren Vergils cinquanta. Unter cinquecento fungiert hingegen die nächsthöhere Zehnerpotenz: so wurde etwa ein legendärer Fiat-Kleinwagen genannt, in dessen Karosserie Steyr-Puch einen 500cm³-Motor verbaute (ob seines Designs war das Fahrzeug hierzulande als nokerl bekannt; das Original trug werkseitig die Bezeichnung "Nuova 500" - offiziell wurde der Name Cinquecento erst beim Nachfolgemodell geführt).

Daß fünfzig bei uns großzügig mit tschinkwetschento übersetzt wurde, wäre möglich - pflegt der Wiener doch ein entspanntes Verhältnis zu Dezimalstellen, wie das Beispiel Kilo zeigt (grch.: chílioi = tausend); der bok ged am zwara an kilo bedeutet hierorts sinngemäß "Das Motorrad fährt bereits im zweiten Gang hundert Stundenkilometer schnell."

 

Was bei alledem fehlt, ist eine nachvollziehbare Assoziation zu feuchten Achselhöhlen. Waren es die beengten Platzverhältnisse im Fiat (beziehungsweise Puch) 500, die Insassen - zumal unter südlicher Sonne - den Schweiß aus allen Poren trieben?

Es ist schwer zu eruieren, worauf die fragliche Redewendung eigentlich Bezug nimmt. Betrachtet man zum Beispiel die 50-Schilling-Banknoten, so fand sich in den siebziger Jahren darauf das Konterfei Ferdinand Raimunds, ab Mitte der Achtziger gefolgt von Sigmund Freud; keiner der Herren scheint sich für eine Herleitung anzubieten. Andererseits gab es damals in Wien eine Jugendgruppierung, die sich "Italos" nannte (anscheinend eine Nebenlinie der hiesigen "Popper"); litten die Fahrer auf ihren Vespas - mit 50cm³ (sic!) Hubraum führerscheinfrei zugelassen - besonders unter Achselflecken?

Eine weitere Möglichkeit wäre die Namensgebung von Deodorants, wie sie zu jener Zeit stark beworben wurden. So gab es unter anderem schon den "BAC-Stift" in den Varianten Rot und Grün; fügt man gedanklich noch Weiß hinzu, ergeben sich die italienischen Nationalfarben - doch zu einem Fünfziger wies jenes Körperpflegeprodukt ebensowenig Affinität auf wie "Fa" oder "Rexona". Einzig "8x4" hatte immerhin Ziffern im Namen (angeblich soll sich das Rechenergebnis auf die 32 Buchstaben des enthaltenen Wirkstoffes Hexachloridhydroxydiphenylmethan beziehen); von hier in die Nähe der eingangs genannten Zahlen zu gelangen erforderte allerdings einen massiven Anfall von Dyskalkulie.

Werte Damen und Herren, Sie sehen mich ratlos. Sollte Ihnen Näheres dazu einfallen, lassen Sie es mich bitte wissen.

[Nachsatz: Einen Werbespruch möchte ich Ihnen dennoch nicht vorenthalten. Wie man mir schrieb, lautete er:

"Doch bald ist sie erhitzt/das hat zur Folge, daß sie schwitzt

pardon, sie transpiriert/und das geniert

und wen man nicht gut riechen kann/tja, der bekommt auch keinen Mann

Bac rot für sie/Bac grün für ihn/den Bac-Stift/ja, verwende ihn."]

 

tschusch: pej. für: Jugoslawe (friaul.: zús = Dummkopf)

schnakerl: Schluckauf (Zwerchfellkontraktion, lat.: singultus)
gogerl: (Hühner-)Ei; Testikel

nokerl: Speise; unregelmäßiges Ovoid (geometrisch nicht bestimmbar)

bok: Bock; Stützkonstruktion; Gelüst; Motorrad

Dr. Seicherl

Rez gscheid!

Proletarisch korrekte Sprache im Alltag


Sie haben spezielle Fragen? Sie interessieren sich für die Herkunft einer Phrase? Sie rätseln darüber, was Ihnen Ihr bodenständiger Nachbar letztens zurief?

Zögern Sie nicht -  wenden Sie sich vertrauensvoll an Dr. Seicherl!

Schreiben Sie ihm unter Dr.Seicherl@gmx.net, oder verfassen Sie einfach einen Kommentar.

Links:

Kommentare_

Kolumnen
Rez gscheid!

Blut und Granaten

Keine Sorge: Unser Sprachexperte ist wohlauf; die Überschrift ist mehr im etymologischen Sinne zu verstehen. Diesmal geht es nach Griechenland, Spanien und ... nun, lesen Sie selbst.  

Kolumnen
Rez gscheid!

Böhmische Dörfer

Gemäß amtlicher Statistik war Wien vor 100 Jahren die "zweitgrößte tschechische Stadt Europas". Und auch ein Blick in das heutige Telefonbuch zeigt: Böhmen und Mähren haben mehr hinterlassen als Powidl und Budweiser.  

Kolumnen
Rez gscheid!

Proletarischer Index

Dr. Seicherl und der EVOLVER präsentieren: das Nachschlagewerk unseres Wiener Sprachressorts! Hier finden Sie alle Ausdrücke und Wendungen, die unser Linguist bislang einer näheren Erörterung unterzog.
Schauen Sie nach ...  

Kolumnen
Rez gscheid!

Kroaten und Italiener

Das Wienerische differiert nicht nur von Bezirk zu Bezirk. So kann es passieren, daß eine Wendung auftaucht, die selbst unserem Sprachressort unbekannt ist. Wissen Sie mehr?  

Kolumnen
Rez gscheid!

Heiß und fettig

Der Würstelstand ist eine Wiener Institution, deren Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Was Sie über diesen essentiellen Mikrokosmos auch in sprachlicher Hinsicht wissen müssen, erfahren Sie hier - ausführlich erläutert von unserem Linguistikexperten.  

Kolumnen
Rez gscheid!

Juden und Alemannen

Wien war immer schon eine Stadt der vielen Völker. Zentrale Kulturgüter wie Küche oder Sprache verdanken das Ortstypische gerade den Beiträgen der Zugezogenen. Manche unter ihnen dürften hier jedoch nie heimisch werden.