Stories_The Nazi Island Mystery/Director´s Cut

Kapitel 1: Die Spur

Im Oktober 1999 erschien im EVOLVER das erste Kapitel von r.evolvers revolutionärem Online-Schundroman um Kay Blanchard. Jetzt darf die toughe MI6-Agentin das Rätsel um die Nazi-Insel noch einmal knacken - in einer völlig neu überarbeiteten Fassung. Ladies and gentlemen, r.evolvers Universe und EVOLVER präsentieren: ein Fall für Kay.    26.10.2009

Schräg, schrill, geil: r.evolvers MI6-Agentin Kay Blanchard is back! In der ersten Folge des autorisierten "Nazi Island Mystery"-Director´s Cut erfahren Sie, wie die Roten eine Agentin behelligen. Special Surprise: Selbst Bond-Fans und -Kenner werden darüber staunen, daß der britische Geheimdienst eigentlich in Legoland beheimatet ist. Soundtrack-Empfehlung für diese Folge: "Kick Out The Jams"/MC5

 

 

PROLOG

 

Nationalsozialistische Europäische Konföderation/Viertes Reich - Operation "Sophie Scholl", Secret Intelligence Service

 

Who dares wins. Einen ewigen Augenblick lang freier Fall. Dann öffnete sich der Fallschirm automatisch. Es schien, als würde mich ein gewaltiger Ruck in den nächtlichen Himmel hinaufkatapultieren. In Wahrheit schwebte ich bereits hinter feindlichen Linien dem gottverdammten Erdboden entgegen. So wie auch Angel und Walter, die vor mir gesprungen waren. Drei Figuren aus der Spielzeugbox des Premierministers, drei kleine Punkte am Nachthimmel, die in wenigen Minuten vielleicht schon unsanft landen würden. Und alles nur, weil unter ihren Füßen ein verdammter Kontinent in brauner Scheiße versank.

Der Erfolg der Operation war vom perfekten Zusammenspiel dreier Menschen abhängig. Vor meinem geistigen Auge tauchte Walters Gesicht auf. Ein intensives Wetterleuchten in der Dunkelheit. Wieder spürte ich seine warmen Lippen, seine fordernden Berührungen, seinen heißen Atem auf meiner Haut ... Die angenehme Erinnerung wurde durch eine weniger angenehme zerstört. Angels unterkühltes Verhalten vor dem Start der Maschine hatte mir verraten, daß sie Walter und mich in der Nacht zuvor beobachtet haben mußte. Ich versuchte jede Gefühlsregung auszublenden, mich in 4000 Fuß Höhe wieder ganz auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Aber da war dieses Gefühl der Ungewißheit, das sich nicht vertreiben ließ. Konnte ich mich heute nacht auf Angel verlassen? Es blieb keine Zeit, mich weiter mit der Frage zu beschäftigen, weil die nächsten Aktionen totale Konzentration erforderten: Beine anwinkeln, landen, Schirm zusammenraffen, Nachtsichtgerät herunterklappen, dann der Versuch, mich zu orientieren - und weiter: in der verdammten Dunkelheit auf den verdammten Sammelpunkt zusteuern, die entsicherte Maschinenpistole im Anschlag. Leise atmen, nur ja kein Geräusch verursachen!

Aber selbst wenn ich wie King Kong übers Feld getrampelt wäre, hätte es niemand wahrgenommen. Über meinem Kopf war ein anfänglich leises Grollen zu einem ohrenbetäubenden Getöse angeschwollen. Dann knipste Gott das Licht an. Tausende Spots tauchten die Umgebung in unnatürlich grelles Licht. Der übernatürliche Schein ging von einer Scheibe aus, die wie aus dem Nichts gekommen war und jetzt am Firmament hing wie das Frisbee des Allmächtigen. Eines war sicher: Das Ding war in keiner terrestrischen Werft zusammengeschweißt worden. Es mußte einen Durchmesser von der Größe Londons haben. Kein Wunder also, daß im kosmischen Flutlicht der riesigen Flugscheibe alle irdischen Beteiligten ratlos nach oben glotzten - die dreiköpfige britische Spionageeinheit und die SS-Männer, die in sicherer Deckung schon auf sie gewartet hatten. Sieh einer an, irgendwer mußte die Aktion verraten haben.

Einige Meter neben mir stand Walter. So wie alle anderen war er offensichtlich völlig verwirrt. Auch sein Blick hing, wie von einer telepathischen Kraft gelenkt, an der Unterseite des rotierenden UFOs. Dort hatten sich unzählige runde Lichter zu einer unglaublichen Botschaft gruppiert: "Mit uns ins All und wieder zurück - Hypertorus-Tours. Die Welt ist größer, als du denkst!" Mit einem lautem "Ssssuuuup!" blendete das Ding aus einer anderen Welt seine intergalaktisch übersetzte Werbebotschaft aus und brach dann mit voller Schubkraft zur nächsten Zielgruppe auf. Es kümmerte sich nicht um internationale Krisen, Invasionen und geheime Operationen im Feindesland - und schon gar nicht um das Inferno, das unten am Boden in der abrupt zurückgekehrten Nacht losbrach.

Ein Querschläger riß meinen Schädel zur Seite. Der Helm verabschiedete sich, landete irgendwo in der Dunkelheit, und mit dem Helm auch gleich das Nachtsichtgerät. Ich suchte im Unterholz Deckung, wartete bange Minuten, die gut genug für die Ewigkeit waren. Schüsse. Schreie, gefolgt von tödlicher Stille. Und dann hörte ich dieses leise Geräusch. "Losung?" flüsterte ich, aber da kam nichts zurück, bis auf dieses bedrohliche Rascheln. Das übrige erledigten Reflexe: Arme leicht anwinkeln und ohne Vorwarnung feuern. Tactactac! Das Feuer erweiterte sich im Kopf zu einem seltsamen Kanon des Todes, wurde lauter, duplizierte sich zeitversetzt ... und so mußte Walter Piercy dran glauben.

Kämpfen. Überleben. Kämpfen. Abkratzen. Warum eigentlich nicht? Irgendwie ist ja doch alles eine Illusion. Ein riesengroßer Beschiß. Die ganzen Atome und so. Eigentlich bestehen sie nur aus Zwischenräumen. Und wir bestehen aus Atomen. So betrachtet sind wir nichts anderes als eine gewaltige Ansammlung von lächerlich unwesentlichen Zwischenräumen, die eine lächerlich unwesentliche Rolle im Universum spielen.

Verlustschmerz und Selbstvorwürfe plagten mich lange Zeit. Nachdem der Ausgang der Operation intern untersucht worden war, landete die "Sophie Scholl"-Aktion als eine der größten Pleiten in der Geschichte des MI6 unter Verschluß. Angel wechselte in den Innendienst. Und obwohl ich schuld an Walters Tod war, blieb ich dem operativen Feld treu. Wenigstens hab ich eines bis heute konsequent durchgezogen: Ich will den Atem des Gegners im Gesicht spüren, bevor ich ihn töte ... mit dem Stilett. Andere Waffen sind indiskutabel.

 

*** 

 

9 Jahre später - Flug 505 von Madrid nach London

 

Regel Nr. 1: Heb nie das Telefon ab, wenn du auf einem Trip bist. Regel Nr. 2: Steig nie in ein Flugzeug, wenn du schwebst! Regel Nr. 3: Steck dir Deine Regeln in den Arsch, wenn deine Königin dich ruft! Ich hatte also das Telefon abgehoben und war dem Ruf der Krone gefolgt, mit dem Endergebnis, daß ich jetzt in einem Airbus A380 der British Airways neben einem Kerl saß, der aussah wie Goofy. Mir war gar nicht gut. Die Roten zeigten einmal mehr ihre fatale Wirkung, die sich jedesmal einstellte, wenn ich vor lauter Streß irgendwo zwischen Rausch und Realität hängenblieb. Im Augenblick war es kaum auszuhalten. Die Schlapperohren von Goofy wuchsen ins Unermeßliche, und er sah so furchtbar traurig aus.

 

Alles explodierte. Zuerst mein Gehirn, unmittelbar darauf die Maschine. Sie verabschiedete sich samt dem Kapitän, den drei oder vier Flugbegleitern und den Dutzenden Passagieren, wurde eins mit dem zentralen Gedankengebäude eines übergeordneten Organismus, dessen Aufgabe es war, Triebwerke irdischer Flugmaschinen zu schlucken und wiederzuverwerten. Sogar die Satelliten über uns, irgendwo weit oben im Orbit, lösten sich in ihre Atome auf. Hinten, im letzten Winkel meines Bewußtseins, spielten sich unglaubliche Szenen ab - scharlachrote Mösen fraßen das ganze Universum auf. Schmatzend schluckten ihre gefräßigen Lippen die Zeit, die Unendlichkeit. Mein Magen rebellierte. Irgendwie schaffte ich es, aufzustehen und mich - ohne allzuviel Aufsehen zu erregen - in den hinteren Teil der Maschine zum Bord-WC zu schleppen.

Nach ungefähr zehntausend Jahren öffnete sich endlich die schmale Klotür. Eine blondierte Busineß-Fotze stiefelte, das Wall Street Journal wichtig unter den Arm geklemmt, aus der engen Kabine, in der es nach Scheiße und Chanel roch. Das mit dem Journal war natürlich Show - nie und nimmer hatte es die Tussi geschafft, das Monsterblatt auf dem engen Lokus zu entfalten. Mit einem ungelenken Tritt wummerte ich die Tür in die Angel und kippte keine Sekunde zu spät vor der Schüssel auf die Knie. Während der Kapitän über die Bordlautsprecher seine Standardstory über Flughöhe und Wetter herunterleierte, kotzte ich eine braunrote Suppe aus. Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte das Blitzlicht der Vernunft den düsteren Horizont: Es mußte eine andere Möglichkeit geben, in dieser verkehrten Welt zu sich selbst zu finden. Joga vielleicht, oder Schokolade mit echten Mandelstücken?

Mein Magen indes kümmerte sich nicht um derlei Fragestellungen. Er reagierte, einem Quecksilberthermometer nicht unähnlich, indem er die Säure auf- und absteigen ließ, bis sie sich, mal tröpfchenweise, mal in einem Schwall in die weiße Kunststoffschüssel vor mir verabschiedete. Schwerelosigkeit. Vielleicht war die Maschine in ein Luftloch - oder wie die das nannten - abgesackt? Irgendwann mußte ich mir wohl den Kopfhörer des Walkman heruntergerissen haben, denn ganz weit weg kreischte Rob Tyner einen Song, soweit ich´s beurteilen konnte, in Moll. Und doch schien nun alles wieder so einigermaßen in Ordnung zu sein. Wieder zurück neben Goofy, setzte dieses eigenartige Bohren in der Magengegend ein. Die Maschine befand sich im Landeanflug. Ich warf noch schnell einen Blick in den Taschenspiegel, wischte mir verstohlen einen einsamen Schweißtropfen von der Schläfe. Dann schwebte ich zur Abwechslung über Gatwick. Es war beängstigend.

Unten erwarteten mich das graue Förderband und mein brauner Lederkoffer, draußen dann das schwarze Metrocab. Der grelle Radarhimmel zog sich über den gesamten Asphaltdschungel, überdachte ihn von Ost bis West, von Nord bis Süd. Er ließ das urbane Dickicht heller aussehen, als es eigentlich war. London hatte mich wieder, und die Gewißheit, daß ich Georg sehen würde, rief sogar so etwas wie Vorfreude hervor.

 

Während der Fahrt spuckte Mr. Cabdrivers Radio den schlechtesten aller Post-Electric-Mixes aus wie Säure und mir ins Gesicht. Gefangen. London - das hieß jetzt zuerst einmal jenen Augenblick überleben, den ich ein bißchen dramatisch die "schlimmste Sekunde meines Lebens" nannte. Davon abgesehen würden die nächsten vierundzwanzig Stunden mindestens so angenehm verlaufen wie ein nikotinfreier Tag im Leben eines Kettenrauchers. Eigentlich könnte ich genau jetzt in meinem Apartment in Conde de Orgaz den Sonnenaufgang genießen. Vielleicht mit einem Cocktail in der Hand, ein bißchen Amphetamin im Blut, oder noch besser mit einem Lover im Bett? Ich fing an zu lachen. Na und? Aus dem Autoradio made in China lachte es schon die ganze Zeit heraus - Harharharharharhähähächichichi! Der Taxifahrer war der einzige, der die Klappe hielt. Ein glücklicher Mann.

Vauxhall Cross, Western London. Zentrale des Military Intelligence 6. Zurück in Legoland. Meine Schritte waren noch immer eine Spur zu unsicher. Kunststück, der Boden unter meinen Füßen fühlte sich an wie ein wabernder See aus Pudding. Trotzdem gelang es mir, das Foyer nicht wie eine Spastikerin zu betreten. Der Fette mit dem glänzenden Gesicht lächelte hinter seinem Glasverhau, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Dienstkappe saß eine Spur zu keck im Nacken. Nicht ganz korrekt. Unter dem Schaltpult pixelte eine heiße X-rated-Sache über eines dieser sauteuren Flexi-Displays. Er hatte sich das Ding auf den Oberschenkel geklebt. Keine besonders gute Deckung für eine Wichsvorlage. Ich warf einen neidischen Blick auf die straffen Titten eines Girlcops mit Spiegelbrillen. Sie ließ sich gerade von einem Afro-Hengst mit übermächtigem Gehänge die Möse lutschen. Jetzt war endlich klar, wer hier die Herrenrasse stellte.

 

In der Toilette im Erdgeschoß wusch ich mir schnell das Gesicht. Die mittlere Kabine war besetzt. Jemand urinierte, ließ lautstark einen fahren, betätigte dann die Spülung. Der Mann, der aus der Kabine trat, kam mir bekannt vor. Ich hatte ihn schon mal irgendwo gesehen. War das nicht der Typ aus der Dechiffrierabteilung? Keine Ahnung. Der bekannte Unbekannte machte sich mit hochrotem Gesicht am Waschbecken zu schaffen. Seine Empörung war unschwer zu erkennen. Konsequent wich er meinem Seitenblick aus und schüttelte dabei kaum merklich den Kopf. Wie unverschämt, daß eine Frau sich ausgerechnet dann aufs Männerklo verirrte, wenn er in der Kabine einen abdrückte. Wäre ich ein Kerl gewesen, hätte ihn das alles nicht berührt.

Der Aufzug ließ mich wieder in eine Art Schwerelosigkeit eintauchen. Seine magischen Zahlen blinkten, leuchteten mir den Weg, den es zu gehen galt. Irgendwie schien der ganze Gebäudekomplex von Gott persönlich erschaffen worden zu sein - am sechsten Tag vielleicht, während der Mittagspause. Legoland: Ein vollendeter Organismus aus Beton und Stahl, ausgestattet mit einem lustigen Spitznamen und garniert mit intelligenten Menschen und hübschen Möbeln im Bauhausstil. Phantastisch, das alles, und vor allem unerklärlich. Hastig warf ich einen letzten Kontrollblick in den Taschenspiegel, trat dann hinaus auf den Flur. Ich ließ meine Schuhsohlen absichtlich über den Kunstfaserteppich schleifen und berührte ein Metallprofil an der Wand. Kindisch freute ich mich über den elektrostatischen Funken, der übersprang. Vor Georgs Büro atmete ich noch einmal kurz durch, zählte bis drei und riß dann, ohne vorher zu klopfen, die Tür auf.

"Kay!" Angel Wells wirbelte überrascht um ihre eigene Achse. Ein gewaltige Herausforderung für den Gleichgewichtssinn. Der Rocksaum ihres hautengen rosa Lederkostüms lag wie eine Fessel an den Oberschenkeln. Der Rest des Teils wirkte auch nicht viel bequemer. Er schmiegte sich wie eine zweite Haut an beneidenswert atemberaubende Formen. Keine Frage, Angels Maße trieben Männern ohne nennenswerte Verzögerung den Saft in die Hose und Frauen die ohnmächtige Wut ins Herz. Wieder begriff ich ihre alles verschlingende Existenz. Und in diesem Augenblick tickte der Zeiger der Uhr auf die "schlimmste Sekunde meines Lebens". Warum hatte Gott ausgerechnet dieser gehirnamputierten Schlampe die vollkommene Figur geschenkt? Und warum mußte sie ausgerechnet Sir Georg Wolffs Assistentin sein? Warum nicht die von dem Typen, der unten im Klo gefurzt hatte? Nein, dieses penetrante Miststück hockte bei jenem Mann, nach dessen Nähe ich mich schon sehnte, wenn ich noch nicht einmal zur Tür hinaus war.

"Kaffee?" Ohne meine Antwort abzuwarten, berührten Angels Hände zärtlich den Ladehebel der kleinen Nespresso. Sie hatte wirklich großes Talent, jede noch so banale Bewegung wie ein laszives Vorspiel zu inszenieren. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, wie es war, wenn sie einmal keinen Kunststoff zwischen den Fingern hatte. Aber natürlich drängte sich das Bild ins Hirn wie eine überdimensionale Leuchtreklame. Verzweifelt versuchte ich es wegzudrängen, an etwas anderes zu denken. In der Zwischenzeit setzte Angel noch eins drauf. Mit sinnlich geöffneten Lippen schob sie die Kaffeekapsel in den Slot, und sie schaffte es tatsächlich, das alles aussehen zu lassen, als würde sie ein Kondom über eine Latte ziehen. Über Georgs Latte zum Beispiel. Noch bevor mich eine heftige Eifersuchtsphantasie zum Wahnsinn treiben konnte, traten zur Abwechslung meine Finger in Aktion. Sie strichen über das glatte Leder ihres engen Oberteils. Es war höchste Zeit für einen gezielten Erstschlag: "Wow, sieht ja fast aus wie Jitrois! War aber eher billig, oder? Woher hast du´s?"

"Wien." Angel wandte sich ab, so schnell es ihr kriminell enger Rocksaum zuließ. Wahrscheinlich wäre sie mir am liebsten an die Gurgel gesprungen. Das rosa Lederzeug war billiger Fake. Außerdem paßte es nicht zu ihren roten Haaren. Genau hier lag Angels verwundbarste Stelle, die ich punktgenau getroffen hatte. Ja, sie mochte einen unschlagbar geilen Body haben ... aber nicht die Spur von Geschmack.

"Wo ist Georg?" fragte ich. Statt einer Antwort starrte mich Angel nur böse an. Hinter ihren giftig blitzenden Augen arbeitete das Sprachzentrum fieberhaft an einem Gegenangriff, der mit Sicherheit meine derzeitige Gewichtssituation zum Ziel gehabt hätte. Pech für Angel, daß es unvermittelt zum Waffenstillstand kam. Die Tür hatte sich geöffnet, und einen gedämpften, aber doch unüberhörbaren Schritt später stand er im Raum. Georg. Wie üblich lenkte allein seine physische Anwesenheit sämtliche Aufmerksamkeit auf sich. Kein Präsident, kein Premierminister hätte ihm diesbezüglich das Wasser reichen können. Groß, schlank, sportlich, mit intelligenten Gesichtszügen und einem Maßanzug von Gieves & Hawkes ausgestattet, war sein Erscheinungsbild so erstklassig, daß es eigentlich schon wieder langweilig hätte sein müssen. War´s aber nicht, stattdessen brachte es mein Herz besser zum Fliegen als jede Rote. Ein Effekt, der nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Leider. Georg lächelte mich die übliche Spur zu kühl und unverbindlich an, bevor sein bestimmender Blick wenigstens das rosa Kostüm zur Tür umleitete. Angel entfernte sich mit saurer Miene aus dem Raum, hinterließ schwache Spuren von Otto Kern.

"Guten Flug gehabt, Kay?"

Ich betrachtete ihn, fragte mich, wie oft er Angel penetrierte, und um die "schlimmste Sekunde meines Lebens" noch ein bißchen zu verlängern, stellte ich mir detailreich vor, wie er es tat. "Also, was gibt´s so Dringendes?!" kam es mechanisch aus meinem Mund.

Georg sah mich überrascht an. "Haben wir´s so eilig?"

"Wenn´s nach mir geht, bin ich in zehn Minuten wieder weg. Ich schätze die Londoner Luft nicht besonders."

"Gut, wie du meinst, Kay - welche Nachricht darf´s zuerst sein: die gute oder die schlechte?"

"Wie jeder hier in Legoland glaube ich an das Gute, also schieß los!"

"Salinger ist wieder aufgetaucht."

Schlagartig erhellte sich mein Gesicht. Gleichzeitig drifteten meine Gedanken einige Jahre zurück. Ich kramte das undeutliche Bild eines sympathischen alten Mannes aus meinem Langzeitgedächtnis: Salinger - seinen Decknamen hatten wir ihm gegeben, weil er immer eine abgegriffene Taschenbuchausgabe des "Catcher in the Rye" mit sich herumschleppte. Darin bewahrte er Formelblätter und Notizen auf, und gelegentlich benutzte er das Buch als Verbindungs-Container für geheime Nachrichten. Acht Jahre war es her, daß ich in Paris einige Wochen mit Salinger vulgo Dr. Braven Dreyer zusammengearbeitet hatte. Seine gefährlichsten Waffen waren sein messerscharfer Geist und sein harmloses Aussehen. Die perfekte Tarnung. Kaum jemand vermutete hinter der runden Nickelbrille und dem sorgfältig gestutzten Professorenbärtchen einen der besten MI6-Agenten. Dabei war Dreyer eigentlich Biochemiker. Er hatte für den Dienst immer wieder interessante Drogenprogramme entwickelt, bis Georg ihn von seinen Experimenten abzog. Dreyer sollte für uns in der Konföderation ein neues Netz aufbauen. Anfänglich schien auch alles nach Plan zu laufen, aber dann brach plötzlich die Verbindung ab. "Schön, daß der Alte wieder da ist, wo hat er all die Jahre gesteckt?"

"Zuletzt offenbar in der Gegend von Triest. Zumindest hat ihn die Polizei dort aus dem Meer gefischt. Kopfschuß. Kaliber .45 - soviel zur schlechten Nachricht."

Georgs lapidarer Stil beim Verkünden von Todesanzeigen versetzte mir jedes Mal aufs neue einen Stoß in die Magengrube. Aber Trauer war ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte. Obwohl ich Dreyer nicht lange genug gekannt hatte, berührte mich sein Tod auf eigenartige Weise. Gab es jemand, der um ihn weinte? Vielleicht seine schlanke, dunkelhaarige Freundin aus Paris, der das winzige Reisebüro an der Rue de la Pompe gehört hatte? Im Hinterzimmer der Agentur hatte der Doktor neue Derivate zur Bewußtseinskontrolle ausgetüftelt. In Dreyers kleiner Hexenküche hatte ich auch zum ersten Mal eine seiner phänomenalen roten Mikros genommen. Er war mein erster Tripsitter. "Bist du sicher, daß es sich bei der Leiche um unseren Mann handelt?"

"Auf die behördlichen Unterlagen haben wir keinen Zugriff. Unsere Quelle ist eine Pressemitteilung der Reichs-Nachrichten-Agentur. Die ist zwar ein bißchen mager, aber sie stützt sich wenigstens auf ein paar Fakten aus dem Polizeibericht. Angeblich wurde Dreyer von einer Person namens Kaempf identifiziert. Laut des forensischen Befundes hat das Projektil Dreyer das halbe Gesicht weggerissen. Die Hände wurden post mortem amputiert ... "

"Klingt übel."

"Ja, vor allem für uns, denn jetzt kommt das eigentlich wichtige: Dreyer hat kurz vor seinem Tod einen chiffrierten Eintrag ins freie Netz geschleust: 'Victoria geht es schlecht.' "

Ich pfiff durch die Zähne. "Hört sich nicht gut an fürs Empire - was hatte er in Triest zu suchen?"

"Deine Aufgabe, das herauszufinden, Kay."

"Anhaltspunkte?"

"Leider wenige. Gleich nachdem wir den Eintrag geortet haben, hat Angel unseren Mann in Triest kontaktiert ... "

Wie aufs Stichwort hin schwebte der hautenge, rosa Jitrois-Fake herein, schnappte sich einen Ordner vom Schreibtisch und streifte dabei sanft Georgs Arm. Wie gern hätte ich Angel genau in diesem Augenblick das Stilett verpaßt, ihren super durchtrainierten Bauch aufgeschlitzt, bis die Därme heraushingen. Aber ich tat es nicht, trat auch nicht auf sie ein, und sie verformte sich auch nicht, mutierte mitnichten zu etwas Unaussprechlichem, über das niemand mehr ein Wort verlieren würde, sondern blieb ganz einfach, was sie war: eine stillose Fotze, die jetzt mit einem Stapel Dokumente wieder aus dem Zimmer verschwand.

Georgs verhaltenes Räuspern holte mich zurück: "Alles in Ordnung, Kay?"

"Ja, ja. Angel hat also Morris in Triest kontaktiert. Und, was hat die Glatze herausgefunden?"

"Das entzieht sich unserer Kenntnis. Morris meldet sich nicht mehr. Ich muß nicht betonen, daß mir diese Entwicklung nicht gefällt."

"Mir auch nicht. Wo starte ich?"

"Bei einer Firma mit Sitz in Wien, 'Science in Progress', sie vermittelt wissenschaftliches Personal. Sämtliche Details dazu liegen bei Angel; nur so viel: Die Inhaberin der Agentur heißt Karin Wilkens. Der Name Dreyer scheint dort in der Lohnverrechnung auf."

"Das heißt, er ist vermittelt worden. Wohin?"

"Tja, wenn wir das wüßten ..."

"Gut, ich find´s raus."

"Du reist als junge Biochemikerin namens Claudia Steinmetz. Britische Staatsangehörige."

"Das ist nicht dein Ernst?!"

"Doch, der Zeitpunkt für die Operation ist perfekt. In Wien findet momentan das 'Festival der Weltgeschichte' statt. Die Nazis geben sich kosmopolitisch und weltoffen - die Einreisebestimmungen sind locker wie nie zuvor."

"Trotzdem, ein britischer Paß ist zu riskant."

"Ich kann dich beruhigen, Kay: Wir haben Angel letzte Woche rübergeschickt, und sie ist heil wieder nach London zurückgekehrt."

"Schade."

 

*** 

 

Ein Nacht im Etap-Bettencontainer. Der Profi-Lover, den ich im Foyer aufgerissen hatte, war muskulös, sein Arsch eine einzige Offenbarung, ein Segen für meine Zunge, die sanft über seine Haut glitt, um die Maschine heiß zu machen. Ich stand voll drauf - stählerne Jungs mit strammen Lanzen, die glänzten, feucht und geil waren, so wie die Schwänze auf dem Pornokanal. Gekauft war mir der schnelle Fick zwischendurch am liebsten. Keine mühsame Beziehungskiste für zwei Eintagsfliegen. Kein verlogenes "Ruf mich an, Baby, ich muß dich unbedingt wiedersehen!", dafür aber ein echter Overkill im Wasserbett. Das steinharte Gehänge meines Miethengstes bohrte kräftig und ausdauernd. Aber Liebe ist nun mal endlich - er kam und noch dazu eine Spur zu früh. Eine peinliche Panne für einen Profi, aber andererseits auch nicht verwunderlich, schließlich war er mit mir im Bett. Egal, er wußte jedenfalls, was im worst case zu tun war. Schnell sorgten seine flinken Finger dafür, daß meine Schädeldecke in Richtung Mars abhob. Das war´s, danke und auf Wiedersehen! Noch vor Mitternacht schmiß ich ihn raus.

Erschöpft schlief ich ein. Wirre Träume im Schädel. Die Raumschiffe hielten sich an die Flugbahn, schwebten zum Io, um dort in endlosen Seen unterzutauchen. Heiß. Ich schwebte mit, war dabei, riß mein Maul auf, vor dem Spiegel, und schluckte all das Rot. Silhouetten zeichneten sich vage am Horizont ab, kamen näher, wurden immer deutlicher. Da war Dreyer, der nach mir greifen wollte - schwierig mit fleischigen Armstümpfen, in denen sich kleine weiße Maden herumtrieben. Hinter Dreyer grinste der glatzköpfige Morris: "Ich geh´ mal schnell auf Tauchstation, Kay. Falls ihr mich sucht, ich bin nicht hier." Georgs Mann in Triest kicherte wie ein Idiot, und sein Kichern erweiterte sich in meinem Kopf zu einer unerträglich schrillen Lärmattacke.

Plötzlich tauchte hinter Morris eine weitere Figur auf. Eine üppige Tussi mit extremer Oberweite. Sie war nackt und schwebte wenige Zentimeter über dem Boden, als hätte sie Luftkissen statt der Füße. Noch seltsamer war ihre deformierte Visage, die aussah, als wäre sie in den Küchenmixer geraten. Ihr einzig unversehrter Teil war ein geiferndes Maul, aus dem lange, spitze Reißzähne ragten. Das überdimensionierte Gebiß hinderte das alptraumhafte Weib nicht am Sprechen: "Runter mit den Pfunden, Kay! Sonst wird dir Angel immer die besten Männer wegschnappen, wegschnappen, wegschnappen ..." Jetzt fielen Morris und Dreyer in den Kanon ein: "Wegschnappen, wegschnappen!" Nein, kein tiefer, traumloser Schlaf in dieser Nacht. Am nächsten Morgen fühlte ich mich, als wäre eine Dampfwalze über mich hinweggerollt. Vielleicht waren diese Wasserbetten doch nicht das richtige für mich.

 

***

 

Flug nach Wien. Der Po der Flugbegleiterin schwang sanft zuerst nach rechts, dann nach links. Aber so einfach war es nicht. Der Bewegungsablauf war nicht fließend. Es gab einen Moment, da kam er ins Stocken. Also, er blieb gleich einer Mechanik hängen, die einen Fehler im System hatte, und genau in diesem Augenblick zuckte der Arsch einen Zentimeter zurück, und zwar in jene Richtung, aus der er soeben gekommen war. Und dann ging es so weiter: links, rechts, kurzes Stocken - ein kaum merkliches Zittern, nicht mehr -, weiter nach rechts und wieder zurück nach links, kurzes Stocken, noch ein kleines Stück weiter nach links und wieder retour nach rechts - ein interessantes Phänomen und mindestens so spannend wie ein Film von Andy Warhol. Aber es lenkte mich von der unangenehmen Tatsache ab, daß ich im Begriff war, mit falschen Papieren in die Euro-Konföderation der Nazis einzureisen. Trotz der gelockerten Einreisebestimmungen eine Aktion, die jede Lebensversicherungsprämie in schwindelnde Höhen getrieben hätte.

Vor zehn Jahren hatte die Gestapo unserem Netz quasi im Handstreich den Garaus gemacht. Der einzige, der es über all die Jahre geschafft hatte, den Kontakt zu Legoland aufrechtzuerhalten, war der glatzköpfige Morris in Triest. Obwohl man sich bei ihm nicht sicher sein konnte, ob er vielleicht von der Gegenseite umgedreht worden war. Wie auch immer, es lag jetzt an mir, zu klären, was genau hinter Dreyers Botschaft steckte: "Victoria geht es schlecht" - diese Message stellte man nicht einfach so aus Spaß in seinen Blog. Sie bedeutete höchste Alarmstufe für das Empire. Irgendwas mußte hinter der Demarkationslinie im Busch sein. Etwas Gefährliches, Tödliches ...

 

 

Was erwartet Kay in Wien? Steckt diese Wilkens von "Science in Progress" hinter der Ermordung des ominösen Dr. Dreyer? Oder haben die Nazis ihn umgebracht? Was wollte er London mit "Victoria geht es schlecht" mitteilen? Weiterlesen! Dranbleiben! Wie es weitergeht, erfahren Sie in der gedruckten Fassung von "The Nazi Island Mystery" - ab sofort bei Amazon.

r. evolver

The Nazi Island Mystery: Director´s Cut


Genau vor zehn Jahren hatte die Menschheit im Web weit Besseres zu tun, als mit dem Basteln von Social-Network-Profilen die Zeit totzuschlagen. Der EVOLVER sowieso: Österreichs bereits damals dienstälteste Netzzeitschrift veröffentlichte im Oktober 1999 mit The Nazi Island Mystery den ersten österreichischen Online-Roman. Und der hatte es in sich. Lesen Sie hier mehr über das Original.

Anläßlich der EVOLVER-Veröffentlichung von "The Nazi Island Mystery" im neu bearbeiteten "Director´s Cut" traf Dr. Trash den Autor zum Gespräch.

The Nazi Island Mystery: ENDLICH ALS BUCH!

Kay Blanchard goes Print


Treue Leser haben lange darauf gewartet, neue Leser werden nach diesem ersten Kapitel ohnehin sofort zugreifen: r.evolvers legendären Trash-Roman "The Nazi Island Mystery" gibt´s jetzt endlich auch als Buch - im erweiterten Director´s Cut, noch einmal verbessert und überarbeitet, mit Vorwort, Illustrationen, Interview und einem wunderschönen Cover. Und das alles im handlichen und preisgünstigen Paperback-Format, bequem zu lesen, aber auch mühelos in der Jackentasche zu verstauen, falls Sie einmal selbst im Einsatz sind.

Lassen Sie sich von r.evolvers sexy Superagentin in ein Abenteuer entführen, in dem nicht nur Disco-Aliens, sondern auch ein bärbeißiger Django im Bürowolkenkratzer vorkommen - und Dick & Doof genauso zu Kays Feinden zählen wie grüne Schleimmonster oder eine peitschenschwingende Domina à la Ilsa.

"The Nazi Island Mystery" ist das erste Werk der neuen Edition EVOLVER BOOKS, wird aber nicht nur deswegen bald Sammlerwert erlangen ...

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