Editorial_12. 3. 2007

EVOLVER und ich

Er schuftet seit eineinhalb Jahren an Bord der EVOLVER-Galeere und versorgt unsere Leser nicht nur regelmäßig mit "Miststücken", sondern auch mit vielen anderen Wortmeldungen zu Popkultur und Musik fernab der Charts. Dabei hat Manfred Prescher noch ganz andere Pläne ...    16.03.2007

Liebe EVOLVER-Leser und -innen!

Dieses Editorial ist anders als die, die Sie sonst in EVOLVER-Newslettern zu lesen bekommen. Es ist eine sehr persönliche Geschichte, die auch unter dem Titel "EVOLVER und ich" stehen könnte (was sie auch demnächst wird) - und sie soll Sie wieder einmal dazu motivieren, den EVOLVER zu lesen, zu schätzen und eventuell auch an eine Mitarbeit bei dieser Netzzeitschrift zu denken.

 

Also: Wie und warum ich zum EVOLVER kam. Aber so genau kann ich das eigentlich gar nicht mehr sagen. "Schreib doch, daß es wegen der guten Bezahlung ist", rät der Chefredakteur. Das mag stimmen, die Entlohnung ist fürstlich. Gut, beim "Stern" oder bei Aldi oder überall sonst auf der Welt verdient man mehr, aber man muß nicht für alles bare Münze nehmen. Ein paar lobende Worte, Leserreaktionen oder andere Schmeicheleinheiten tun es manchmal auch. Der Mensch lebt schließlich nicht vom Brot allein. Außerdem gibt es etwas, was man nicht mit der Kreditkarte bezahlen kann: redaktionelle Freiheit.

Ob mich der Duft dieser Freiheit zum EVOLVER gebracht hat? Nein, es war viel profaner: "Kannst du etwas über Frank Miller schreiben?" Konnte ich. Indirekt war es aber dann doch die Aussicht auf Freiheit, die mich lockte: "Einen Artikel über Miller kriegst du nirgends unter", sagte ich mir. Und plötzlich konnte ich nicht nur über den Comic-Großmeister schreiben, ich wollte es auch. Mittlerweile ist mein eigenes EVOLVER-Portfolio auf mehr als 90 Artikel angewachsen und ich genieße es, daß ich schreiben kann, was ich will.

Das darf man jetzt nicht mit laissez-fairem Redaktionsstil oder portalimmanenter Wurschtigkeit verwechseln - beim EVOLVER wird sorgfältig darauf geachtet, daß der Autor Stellung bezieht, über Geschmack und ein dezidiertes Wertesystem verfügt. Die Schere, die einem als Redakteur normalerweise vom Arbeitgeber in den Kopf gepflanzt wird, sorgt im Berufsalltag dafür, daß die Grenzverläufe der jeweiligen Verlagsräson eingehalten werden. Im EVOLVER gibt´s die nicht. Und wenn doch, so wird das Werkzeug höchstens dazu benutzt, neue Rechtschreibung zu echtem Schriftdeutsch zu zerschnippeln.

Und dann natürlich das Team: "Die lassen dich nicht mehr los", wurde ich schon zu Anfang meiner deutsch-österreichischen Online-Karriere gewarnt. Bis zum heutigen Tag will ich nicht darauf hören, wiewohl der Satz natürlich stimmt. Aber es sind die anderen Autoren, auf die man hier trifft. Einmal wie eine Biene von Blüte zu Blüte, hier also von Artikel zu Artikel geflogen, schon will man einer von ihnen sein. So ging es mir jedenfalls, als ich von Peter Hiess, Andreas Winterer oder Martin Compart las. Illustre Kreise ziehen an und locken das eitle Ego hervor. Es zeigt sich immer wieder, daß es absolut befruchtend ist, sich mit den Besten zusammenzutun. Weil: "to evolve" heißt schließlich, sich zu entfalten - was im Verbund mit Gleichgesinnten eben besonders gut geht.
Wie bin ich also zum EVOLVER gekommen? In Wahrheit war es ein kurzer Moment, eine Entscheidung, die in aller Kürze getroffen wurde. Fast wie die Jungfrau zum Kinde, irgendwie. Ich kannte die Seite gar nicht; das finde ich schade, da ich als Leser gern von Anfang an dabei gewesen wäre und mit brennender Ungeduld darauf gewartet hätte, daß mein Modem endlich den ersehnten Text öffnet. Ein EVOLVER-Autor ist halt zugleich immer auch ein EVOLVER-Leser - ein Fan der anderen, ein Mensch, der sich von der Begeisterung der Kollegen anstecken läßt. Und genauso stelle ich mir die Leser des EVOLVER vor: Es sind neugierige Fans von uns.

Und ich selbst? Ich bin im fortgeschrittenen Alter noch absoluter Musikfan. Aber auch erfahren genug, die Zusammenhänge zu erkennen, in die selbst das beste Meisterwerk eingebettet ist. Ich habe oft erlebt, daß Meisterwerke unentdeckt blieben, weil sie nicht zur rechten Zeit am kapitalistisch richtigen Ort - also im Verdauungstrakt des Goldesels - angekommen waren. Wie sonst würden sich die im Sande dahinmäandernden Karrieren von Nikki Sudden oder Stephen "Tin Tin" Duffy erklären?

Das ist einer der Gründe, warum ich ab nun im EVOLVER für den Musikteil verantwortlich sein werde. Mechanismen sollen durchleuchtet werden. Oder, anders formuliert: Auch wenn man es nicht mehr hören mag, weil sich das Dahinsiechen schon so lange hinzieht, der Zustand der Agonie der Musikindustrie muß den geneigten Lesern in regelmäßigen Abständen präsentiert werden. Gerne auch mal mit dem Gestus "Wir haben es ja immer gewußt" - weil man mit Weisheit nicht hinterm Berg zu halten braucht. Auf jeden Fall aber mit dem Blick auf das daraus resultierende Neue, das sich zwangsläufig aus der Katastrophe entwickelt. Weil es gute Musik immer geben und Sonyversal daneben in der artifiziellen Schönheit ihrer Casting-Klons untergehen wird, ist das Ganze auch - trotz der thematischen Wiederholung mindestens seit 1998 - immer noch spannend.

Musikalisch sind uns keine Grenzen auferlegt, und als verantwortlicher Redakteur werde ich die Autoren auch nicht dazu auffordern, Stilbarrieren zu errichten. Wichtig sind mir allerdings drei Dinge: Erstens müssen die Damen und Herren ihr eigenes Geschmackstierchen gut im Futter halten, weil sie sonst nicht zum EVOLVER passen und weil ein festes Fundament eine stabile Basis ist. Zweitens sollen sie über den Tellerrand hinausschauen können, da ein guter Musikjournalist die CD eines persönlich ungeliebten Künstlers - ich verwende für mich immer das Beispiel Phil Collins, aber das ist reine Geschmackssache - nicht nur in den eigenen Gusto-Rahmen bringen kann, sondern auch einzuschätzen weiß, was die Platte im Werkkontext, also für die jeweiligen Fans bedeutet. Drittens ist mir eine Einordnung von Künstler und Werk in den Pop-Gesamtzusammenhang und in gesellschaftliche Gegebenheiten, in die Trends von morgen und in die Historie wichtig. Daß die Autorinnen und Autoren auch noch möglichst auf hoher Qualitätsstufe eigen, also unverwechselbar, schreiben können sollen, das versteht sich da beinahe von selbst.

In diesem Sinne: Für den Musikteil im EVOLVER bin ab jetzt ich zuständig. Urteilen Sie darüber hart, aber fair; schreiben Sie in Kommentaren oder eigenen Artikeln selbst mit, falls Sie Lust dazu verspüren - und vor allem: Genießen Sie die Lektüre!

Wir lesen uns ...

Alles Liebe,

Manfred Prescher
(EVOLVER-Musikredakteur und Pop-Philosoph)


Redaktionelles PS:

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Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

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