Kolumnen_Linientreu #2

Mit Verspätung ist zu rechnen

Alle Jahre wieder kommt es völlig überraschend: Es schneit. Im Winter. Man stelle sich vor! Was dann passiert, ist pure Realitätsverweigerung. Es wird nicht passieren. Es wird nicht passieren. Und es passiert doch. Die Busse und Straßenbahnen können nicht so schnell, wie sie wollen. Und die Mitbürger wollen nicht so schnell, wie sie können. Damit ist das Chaos vorprogrammiert - meint Nina Munk.    04.02.2013

Straßenbahn, U-Bahn, Autobus - die öffentlichen Verkehrsmittel (im Wiener Werbefirmen-Dialekt "Öffis" genannt) sind social ohne network, die dringend nötige Pause zwischen Streß im Job und Streß zu Hause, der bekanntlich viel interessantere Weg zum ohnehin immer gleichen Ziel. Nirgendwo sonst liegen Freud und Neid, Tanzschule und unterste Schublade, Hoffnung und Verspätung so eng nebeneinander. Und die Wahrheit lauert stets irgendwo im Spalt zwischen U-Bahntür und Bahnsteig. Vorsicht beim Einsteigen!

 

Schon seit einer Woche wurde es in allen Medien angekündigt: Da kommt ein Wetter. Und zwar nicht irgendeines, sondern ein schlechtes. Man wies sogar deutlich darauf hin, daß gewisse Vorbereitungen kein Fehler wären. Warme Kleidung. Früher losfahren. Mit Verspätungen ist zu rechnen!

Als gelernte Öffi-Fahrerin kombiniere ich rasch: Wecker früher stellen = rechtzeitige Ankunft im Büro. Der Plan ist einfach, die Ausführung schwierig, denn mein innerer Schweinehund stellt am frühen Morgen folgende Berechnung an: Noch 10 Minuten = auch schon egal. Also schlafe ich 30 Minuten länger und sehe mich beim Blick aus dem Fenster mit dem Winterwunderland konfrontiert, das mich - angekündigt hin oder her - völlig überrascht.

An der Bushaltestelle begegnet mir eine ganze Traube ebenfalls total überrumpelter Menschen, die noch dazu nervös auf die Uhr schauen. Die Eiszapfen in den Nasenlöchern mancher Wartenden zeigen mir deutlich, daß der Bus schon länger nicht aufgetaucht ist. Und in nächster Zeit auch nicht auftauchen wird, weil er ein Stück weiter oben quer über der Straße stehtt. Auch dem Busfahrer ist die Überraschung anzusehen. Winterreifen? Im Winter? Jetzt machen Sie sich nicht lächerlich!

Naturgemäß passiert das, was immer passiert, wenn man keine Zeit hat: Die Zeiger der Uhr installieren einen Turbo und drehen sich mit doppelter Geschwindigkeit. Mit dreifacher, wenn man das wütende Gesicht des Chefs vor Augen hat. Endlich vom Bus befreit und an der Haltestelle der Bim angekommen, wird schnell klar, daß auch hier nichts weitergeht. Die Menschenmasse hat bereits Volksfestcharakter. Den internen Wettkampf über den längsten Naseneiszapfen gewinne ich locker, aber im Büro bin ich deswegen noch lange nicht. Die Straßenbahn ist so voll, daß nicht einmal ein hauchdünnes Pfefferminzblättchen noch Platz hätte. Trotzdem drängen die Leute hinein, auch ich, um mich drinnen verzweifelt in Luft aufzulösen.

Irgendwann in den nächsten 20 Minuten und mit plattgedrückter Nase an der Fensterscheibe der Bim wird mir folgendes klar: Das ist es nicht wert. Und sofort überkommt mich purer Fatalismus. Es geht halt nicht, wenn´s nicht geht. Also steige ich aus. Und schlendere gut gelaunt zur U-Bahn. Und lasse mich von gestreßten Mitbürgern überholen, die am Rande des Herzinfarkts zwei Stufen auf einmal nehmen. Selbige Mitbürger stehen dann oben völlig frustriert auf dem Bahnsteig, schauen der U-Bahn traurig hinterher und werfen einen verzweifelten Blick auf die Anzeige: 2 Minuten. 2 Minuten! Was kann da alles passieren? Den Gesichtern der Menschen am Bahnsteig nach zu urteilen, die schlimmsten Dinge. Der Himmel könnte in zwei Minuten über uns hereinbrechen, die Sonne könnte sich ausdehnen und die Welt verschlingen. Außerdem könnte die 30-Sekunden-Terrine in der Mikrowelle kalt werden, und das nur, weil die U-Bahn gerade davongefahren ist, Kruzitürken!

In zwei Minuten ist alles möglich, aber deswegen ist man auch nicht schneller da. Also was soll´s? Ich hingegen nehme tiefenentspannt Platz und beobachte, wie sich in den zwei Minuten allgemeine Unruhe ausbreitet - mit den bekannten Symptomen. Sie fängt bei den Zehenspitzen an, die dann den Fuß dazu bringen, nervös auf den Boden zu schlagen. Dann geht sie weiter zu den Beinen, die den Bahnsteig auf- und abtigern, erreicht die Arme, die verdrossen in die Luft geworfen werden, und klettert schließlich in den Mund, wo sie sich endlich ausdrücken kann: "Oida!" Manchmal manifestiert sie sich auch als: "Geh, bitte!" oder als intellektuelles "Das gibt´s doch nicht!" Egal, wie man es ausdrückt: Die U-Bahn ist noch nicht da. Möglicherweise, weil erst eine Minute vergangen ist?

In Minute zwei ist die Hälfte der Wartenden bereits vor die gelbe Sicherheitslinie getreten, um ganz nah dran zu sein, wenn der Zug einfährt. Die Connaisseure wissen bereits, wo sich die Türen befinden werden und stellen sich in Position, beäugen einander mißtrauisch und fahren die Ellbogen aus. Die Ungeduldigen dahinter goutieren das mit zehn weiteren "Oida!", oder vielleicht zählen sie auch nur die letzten Sekunden herunter. Und dann ist es soweit: Der Zug fährt ein, er wird langsamer, er wird schneller, es ist ein Sonderzug.

In diesem Fall hilft nur ein gepflegtes Achselzucken, weil alles andere nicht mehr hilft. Sich selbst zu stressen, damit man endlich dort ankommt, wo man sowieso nicht sein will - in der Arbeit - nützt schon gar nichts. Weil, aufgepaßt: Sie werden sowieso keine Medaille dafür kriegen.

Nachsatz: Eine Stunde später komme ich in die Arbeit - und bin immer noch die Erste. Der Wintereinbruch kam auch für den Chef komplett überraschend.

Nina Munk

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