Kolumnen_Linientreu #4

So wahr ich hier stehe

Telekommunikation im öffentlichen Raum. Darüber wurde bereits alles geschrieben, weil rundherum alles auch schon ins Handy gebrüllt wurde. Wirklich alles? Nein - um das Bild abzurunden, fehlt noch ein Puzzlestück: die schamlose Lüge. Nina Munk hat den Mobilsündern zugehört.    04.03.2013

Straßenbahn, U-Bahn, Autobus - die öffentlichen Verkehrsmittel (im Wiener Werbefirmen-Dialekt "Öffis" genannt) sind social ohne network, die dringend nötige Pause zwischen Streß im Job und Streß zu Hause, der bekanntlich viel interessantere Weg zum ohnehin immer gleichen Ziel. Nirgendwo sonst liegen Freud und Neid, Tanzschule und unterste Schublade, Hoffnung und Verspätung so eng nebeneinander. Und die Wahrheit lauert stets irgendwo im Spalt zwischen U-Bahntür und Bahnsteig. Vorsicht beim Einsteigen!

 

Neulich in der U-Bahn ... da werde ich tief in die zwischenmenschliche Beziehung eines mir völlig Fremden eingebunden. Sie ruft an. Er sagt, er ist schon am Schwedenplatz und in fünf Minuten da. Ich schaue nach draußen: Heiligenstadt. Und der Zug fährt erst in fünf Minuten ab. Glaubt der Mann vielleicht, es kommt zufällig ein TGV vorbei? Oder ein Zeitloch? Oder glaubt er, es fällt nicht auf, wenn er erst in 20 Minuten da ist? Und wem hilft das, eine völlig falsche Zeit zu nennen? Ihm sicher nicht, weil sie dann erst recht sauer ist. Und mir auch nicht, weil was zum Teufel hab´ ich mit der ganzen Sache zu tun?

Jeder Mensch lügt, meistens, um ein Beziehungsdrama zu verhindern: "Macht mich die Hose fett?" "Geh, wo denn?" "Hast du gestern die letzte Folge von Grey´s Anatomy überspielt?" "Geh, wie denn?" "Die Verena sagt, du warst mit der Babsi gestern im Kino?" "Geh, wann denn?" Der Ausgang dieser kleinen Notlügen ist bekannt: Man wird trotzdem erwischt, geht sich kurz in die Ecke schämen, und dann ist eh wieder alles okay.

In der Straßenbahn ist das schon schwieriger, vor allem, wenn ich gerade mein Buch lesen will. Und nicht kann, weil vor mir schon wieder eine sitzt, die unbedingt ins Handy schreien muß. Wahrscheinlich treibt sich der Gesprächspartner am Nordpol herum, und der Empfang ist grad ungünstig. Oder sie will einfach, daß jeder mitbekommt, daß sie ein Handy hat - toll! Und die Tasten kann sie auch so schön drücken, das brave Mädchen!

Okay, ich geb´s auf, knalle mein Buch vernehmlich zu und lausche - sie will es ja nicht anders. Und welch schöner Monolog sich da ergeben hat, sollen die folgenden Zeilen wiedergeben (meine Gedanken dazu in Kursiv):

 

"Aufm Weg zur Jacky." (Danke für die Information, jetzt kann ich beruhigt weiterleben.)

"Nein, allein." (So?)

"Nein, niemand!" (Geh!)

"Ich schwörs´ dir, niemand!" (Da sitzt doch wer.)

"Also gut, ja, die Anna." (Anna mit Dreitagebart?)

"Wieso willst jetzt mit ihr reden?" (HAHA!)

"Die kann grad nicht." (Am Klo?)

"Vielleicht, weil sie telefoniert?!" ("Vielleicht" ist nicht gelogen.)

"Hearst, du gehst ma am Zeiger." (Genau, weg mit ihm, warum ist denn der so mißtrauisch?)

"Was willst jetzt eigentlich?" (Mit der Anna reden, hast du doch gehört - so wie wir alle.)

"Red ma später." (Ja, bitte!)

"Später!!" (LEG AUF!)

 

Und schon wird der zukünftige Exfreund weggedrückt. Unnötig zu erwähnen, daß der es immer wieder probiert, den Rest meiner langen Fahrt und meiner kurzen Nerven lang - Rihanna kenn ich jetzt, danke dafür.

Der Typ neben dem genervten Gör nimmt es im Gegensatz zu mir jedenfalls stoisch, fast schon phlegmatisch, ihm ist das Gespräch so wurscht wie gefüllte Haut. Soziopathen unter sich.

Lügen, ohne zu zögern, ohne lange Nase und ohne rot zu werden, das ist schon eine Wissenschaft für sich. Aber in aller Öffentlichkeit zu lügen und auch noch drauf zu pfeifen, daß alle es hören können, noch dazu das gesamte Abteil zum Mittäter zu machen - das ist die hohe Kunst. Allein: Auszahlen tut es sich nicht. Denn irgendwann wird sie abheben müssen. Irgendwann wird sie sich dem Drama stellen müssen und zwischen Tür Nummer 1 (Kontrollzwang) und Tür Nummer 2 (Phlegma) wählen müssen. Und irgendwann wird jemand einfach so in ihr Gespräch reinpfuschen und laut rein schreien: "LÜGE! Glaub ihr nichts, das ist ALLES gelogen!"

Irgendwann werde ich das sein.

Nina Munk

Kommentare_

Michael H. - 04.03.2013 : 21.34
:-D

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