Kolumnen_Linientreu #8

Ohne Genierer

Erwachsensein ist blöd. Wir sind von Regeln umzingelt, vor allem in den Öffis. Rechts stehen, links gehen. Zuerst aussteigen, dann einsteigen. Rauchverbote überall. Musizierverbot. Nichts hinausstrecken. Papierln nicht auf den Boden schmeißen. Hinter die gelbe Sicherheitslinie zurücktreten. Bei Verspätungen nicht auf den Boden werfen, mit den Gliedmaßen strampeln und laut schreien. Ein Kind müßte man wieder sein - die haben andere Probleme. Gutes Benehmen gehört nicht dazu.    20.05.2013

Straßenbahn, U-Bahn, Autobus - die öffentlichen Verkehrsmittel (im Wiener Werbefirmen-Dialekt "Öffis" genannt) sind social ohne network, die dringend nötige Pause zwischen Streß im Job und Streß zu Hause, der bekanntlich viel interessantere Weg zum ohnehin immer gleichen Ziel. Nirgendwo sonst liegen Freud und Neid, Tanzschule und unterste Schublade, Hoffnung und Verspätung so eng nebeneinander. Und die Wahrheit lauert stets irgendwo im Spalt zwischen U-Bahntür und Bahnsteig. Vorsicht beim Einsteigen!

 

Ich wäre gern wieder ein Baby. Frisch geschlüpft, hätte ich freie Platzwahl in meinem Kinderwagen. Gleichzeitig wäre der Buggy mein Ferrari, mein Himmelbett, meine Spielwiese, mein Wasserloch. Alles, was Spaß macht, würde einfach vor mir auftauchen und mir in die Patschhand gedrückt oder in den Mund geschoben. Mein Dixieklo hätt ich immer mit. Wenn´s voll ist, würde man es wechseln. Wenn´s naß ist, schreie ich. Wenn ich geschüttelt werde, schreie ich. Wenn´s rund um mich zu laut ist, schreie ich. Wenn ein fremdes Gesicht vor mir auftaucht und "Aguzigu, ja was hat er denn?" ruft, schreie ich noch lauter, weil ich ein Mädchen bin. Wenn mein Schnuller weg ist, schreie ich. Wenn ich nicht sofort meine Milch kriege, schreie ich. Wenn ich müde bin, schreie ich. Wenn alle Fahrgäste komplett entnervt sind, bin ich ein paar Sekunden ruhig, bis sich alle entspannen. Dann erklimme ich die nächste Oktave und kreische. Erst wenn ich aus der U-Bahn geschoben werde, schlafe ich ein. Mir ist nix zu peinlich. Meinen Eltern schon.

 

Ich wäre gern wieder ein Kleinkind. Dann würde ich mir beim Einsteigen Zeit lassen, weil alles andere spannender ist als Einsteigen. Ich würde im Weg herumstehen und mich garantiert nicht hinsetzen. Wenn ich sitzen muß, springe ich sofort wieder auf. Wenn ich mich wieder hinsetzen muß, trample ich mit den Füßen gegen den Sitz. Wenn ich neben einer fremden Frau sitzen muß, dann sage ich laut: "Ich will nicht neben der komischen Frau sitzen." Wenn meine Eltern dann rot anlaufen, füge ich hinzu: "Die Frau schaut aber wirklich komisch aus." Wenn sich meine Eltern eine Minute unterhalten wollen, würde ich sie ständig unterbrechen. Ich würde immer etwas zu essen haben wollen. Oder zu trinken. Oder ein Planschbecken. Aber egal, was ich dann bekomme, ich lasse es sofort fallen. Am besten auf den Fahrgast neben mir. Wenn ich nichts kriege, fange ich an zu weinen. Wenn mich meine Eltern beruhigen wollen, schreie ich nach einem Eis. Wenn mich meine Eltern mit Schokolade abspeisen wollen, werfe ich die Schoki durch die U-Bahn und schreie lauter. Wenn mich meine Eltern zur Ruhe ermahnen, weiß ich, ich habe sie bald soweit, zumindest ihre volle Aufmerksamkeit. Ich höre nicht auf, bis meine Eltern mit mir entnervt die U-Bahn verlassen. Dann schlafe ich ein. Mir ist halt nix zu peinlich.

 

Ich wäre gern wieder in der Volksschule. In der Gruppe würde ich mich am wohlsten fühlen. Meine Lehrer könnten noch so oft "Geh, seid´s a bisserl leiser!" rufen, es wäre mir egal. Ich würde meinen Lärmpegel den anderen Kindern anpassen. Und eine Ermahnung hätte die Lebensdauer eines Ausrufezeichens. Kaum wäre es verklungen, würde ich wieder lauter werden. Ich würde die Haltegriffe als Schaukel benutzen, die Sitze als Trampolin und die Haltestangen in der Mitte zum Fangenspielen. Ich hätte einen riesigen Rucksack, der wunderbar als Rammbock dient. Ich würde mich häufig einfach so drehen, damit alle anderen die Schlagkraft meines Rammbocks zu spüren bekommen. Auf Klassenausflügen würde ich prinzipiell mein Jausenbrot vergessen. Das würde ich dann der ganzen U-Bahn mitteilen. Wenn´s keinen juckt, würde ich zu weinen anfangen. Wenn nicht gleich alle aufspringen, um mir mein Jausenbrot zu servieren, würde ich noch lauter weinen. Wenn sich dann meine Lehrer zu einer diesbezüglichen Frage erbarmen, würde bereits mein Rotz auf die Sitze tropfen und die Schluchzer würden stoßweise kommen, weil alle so gemein zu mir sind. Ich würde nicht aufhören, bis die ganze Klasse aussteigt. Dann schlafe ich ein. Mir ist nichts zu peinlich. Meinen Lehrern schon.

 

Sie sehen, alles ist besser, als erwachsen zu sein. Wenn wir uns auf die Sitze stellen, kommt die U-Bahn-Aufsicht. Wenn wir herumpöbeln, kommt die Polizei. Wenn wir es wagen, bei einem guten Buch laut aufzulachen, werden wir eingeliefert. Kinder werden nie eingeliefert, obwohl sie alle Anzeichen einer akuten seelischen Störung aufweisen: sie sind himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, meistens gleichzeitig. Sie sagen alles, was ihnen in den Sinn kommt, auch wenn es keinen Sinn ergibt. Sie plappern vor sich hin, murmeln Unverständliches oder summen immer wieder dieselbe Melodie. Sie zappeln herum, schmieren Spucke auf die Fensterscheiben oder legen sich einfach so quer über die Sitze.

Fazit: Die haben den ganzen Spaß. Und wir müssen ruhig sein. Das ist ja so gemein!


Nina Munk

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