Kolumnen_Linientreu #11

Jenseits des Metronoms

Kennen Sie das Gefühl völliger Entspannung? Falls nicht, dann empfehle ich zwei Wochen Urlaub. Wenn Sie wieder da sind, sieht die Welt ganz anders aus - vor allem in den Öffis.    08.07.2013

Sie haben nur zwei Tage Zeit, bis der Alltag Sie wieder mit seinen verkrüppelten Klauen würgt, aber in diesen zwei Tagen sollten Sie unbedingt die Öffis benutzen. Da ist der Blick noch frisch, die Bräune noch vorhanden, die Gedanken sind nur halb da und halb am Meer, die rosarote Urlaubsbrille ist noch nicht verrutscht. Der Original-Hippie würde es den Groove nennen, den Flow, die hippen Hippie-Hipster von heute sagen "chillaxt" dazu - aber wie auch immer Sie es bezeichnen: das Gefühl ist nicht drogeninduziert und daher so selten wie Diamanten im Kanal.

Verschwenden Sie diese Zufriedenheit nicht! Gehen Sie lieber hinaus in die Welt und betrachten Sie andere Leute - da könnte man fast zum Menschenfreund werden.

Die Stadt befindet sich Anfang Juli im Ausnahmezustand. Viele sind bereits geflüchtet, und diejenigen, die dageblieben sind, tragen trotzig Badekleidung in der U-Bahn. Sie sind bunter als sonst, ihre Hosen verschwinden in den Po-Ritzen, sie tasten sich - dank riesiger Sonnenbrillen halbblind - von Haltegriff zu Haltegriff, und alles an ihnen schreit nach Sonnenöl und Strohhut. Ihre Firmen haben die legeren Wochen ausgerufen, weil der Publikumsverkehr verebbt ist wie der Strand von Phuket kurz vor dem Tsunami. Ihre Chefs wurden weggespült von familiären Verpflichtungen auf den Malediven, ihre Kinder sind von einer Woge Ferienlager erfaßt worden. Und plötzlich ist Zeit wieder ein dehnbarer Begriff, kein unerbittliches Metronom, das den Arbeitstakt in Serienterminen mißt. Diese Daumen-mal-Pi-Stimmung, dieser Schlendrian veranlaßt selbst den stursten Krawattenträger dazu, sich das Sakko lässig über die Schulter zu werfen. Hie und da hält sich noch einer krampfhaft am Tablet fest, aber auch der merkt schnell, daß er sich nur schlecht konzentrieren kann. Die Stimmung in der U-Bahn ist einfach zu unehrgeizig, zu sehr Laissez-faire. Man muß es auch einmal gut sein lassen - und wenn es nicht gut ist, ist es wenigstens nicht schlecht.

Die Vorfreude auf den eigenen Urlaub trifft auf die Freude der Touristen, die begeistert in ihre Karten schauen oder hinter ihrer Kamera hervor. Es wird lauter gelacht, amerikanischer geredet, weniger gedrängelt, mehr losgelassen. Die Jungen sind weg, die Familien sind weg, die Sandler sonnen sich auf der Donauinsel. Sie machen Platz für eine ganz eigene Partie, einen eigenen Menschenschlag: eingefleischte Balkonienurlauber, nußbraune Arbeiterstrandbad-Bewohner, Freitagstaschen-Bobos, die den Bus zu ihrem Wohnzimmer erklären, und die ganz Alten, die nicht mehr weit kommen und es sich endlich leisten können, vor uns herzuschleichen ... wir haben alle Zeit der Welt und den Sommer noch vor uns.

Natürlich sterben die Suderanten nicht aus. "Und des vor meinem Urlaub!" schallt es aus der hinteren Reihe, so laut, daß es eh alle verstanden haben: Der Rufende reist demnächst ebenfalls ab. Dem Rest von uns kann´s nur recht sein, wir sind froh, daß wir den letzten Spielverderber auch noch los sind. Eine Reihe weiter vorne spielt ein Pärchen "Ich packe in meinen Koffer ..." und ist sich uneins darüber, ob man den Fön mitnehmen soll oder ob sie im All-inclusive-Club einen haben. Immer noch gestreßt sind auch diejenigen, die den Koffer mit dabeihaben und den Weg zum Flughafen suchen. Es sind die So-Menschen, die eine kleine Liste in ihren Köpfen abarbeiten und jedes Hakerl mit einem lauten "So!" kommentieren, manchmal auch begleitet von einem Händeklatschen.  "So! - drei Stationen noch" ‚ "So! - wir steigen jetzt aus" ‚"So! - wo müss ma jetzt hin?" ‚"So! - den Paß hamma eh, oder?"

Darüber kann ich nur schmunzeln, denn ich hab´s schon hinter mir. Ich hab´ die Brille noch auf, den Groove, den Flow, bin tiefenentspannt und völlig chillaxt. Ich bin im Einklang mit mir und der Welt, jedenfalls noch zwei Tage lang. Irgendwie ist alles anders, wenn man zurückkommt. Und trotzdem ist alles gleich.

Nina Munk

Kommentare_

Kolumnen
Schein-Angriff #4

Die letzten Straßen-Mohikaner

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Party - und die ist fad. Kann passieren. Ich weiß, wie man die Feier rettet: Erzählen Sie davon, wie Sie gerade den Führerschein machen. Schon bekommen alle feuchte Augen.  

Kolumnen
Schein-Angriff #3

Außergerechnet

Im Zuge eines Projekts kommt für jeden Projektmanager der Punkt, an dem er am Projekt zu zweifeln beginnt. In der Fahrschule ist das jedes Mal der Fall, wenn ich das Wort "außer" höre.  

Kolumnen
Schein-Angriff #2

Der platonische Schein

Vor dieser ersten Woche Fahrschule bin ich gleich zwei gewaltigen Irrtümern unterlegen. Erstens dachte ich, daß mein Alter ein Vorteil wäre. Und zweitens, daß Verkehrsregeln logisch sind. Jetzt weiß ich, daß ich nichts weiß.  

Kolumnen
Schein-Angriff #1

Kommen lassen!

Viel zu lange haben uns die Beiträge unserer Lieblingskolumnistin Nina Munk im EVOLVER gefehlt - aber sie ließ uns wissen, daß sie momentan so viel anderes zu tun hat. Jetzt haben wir endlich herausbekommen, was: sie macht den Führerschein! Und natürlich haben wir sie gleich dazu vergattert, auch darüber etwas zu schreiben …  

Kolumnen
Linientreu #17

Urbi et Öffi

Jeder hat sein Packerl zu tragen - zu Weihnachten sogar zwei oder drei. Wer da öffentlich unterwegs ist, braucht starke Arme und einen ebenso starken Hang zum Phantastischen. Auch in der U-Bahn sollte eigentlich der 24. sein. Man merkt es nur nicht.  

Kolumnen
Linientreu #16

Wer hat schon die Zeit?

Gratiszeitungen in den Öffis sind die Nespresso-Kapseln der Berichterstattung: viel Müll für nix. Um sich von der Masse abzuheben, kauft man "Die Zeit" kommt sich toll vor und bereut es im U-Bahn-Gedränge gar bitterlich - Formatchaos, what else?