Kolumnen_Linientreu #3

Abschied von der Linie

Plötzlich fehlte etwas: ein Schnarren, ein Krächzen, ein breiter Dialekt. Wo ist er hin, der Mann, der uns allen sagt, wie wir in Wien wohinkommen? Der Mann, der uns jahrelang von Linie zu Linie umsteigen ließ? In Pension ist er, wie die Nachrichten uns verkünden. Seither ist die Ansage weiblich: ein Schnurren, ein Summen, ein wohliges Schnattern. Und leider ganz ohne Linie - findet Nina Munk.    18.02.2013

Straßenbahn, U-Bahn, Autobus - die öffentlichen Verkehrsmittel (im Wiener Werbefirmen-Dialekt "Öffis" genannt) sind social ohne network, die dringend nötige Pause zwischen Streß im Job und Streß zu Hause, der bekanntlich viel interessantere Weg zum ohnehin immer gleichen Ziel. Nirgendwo sonst liegen Freud und Neid, Tanzschule und unterste Schublade, Hoffnung und Verspätung so eng nebeneinander. Und die Wahrheit lauert stets irgendwo im Spalt zwischen U-Bahntür und Bahnsteig. Vorsicht beim Einsteigen!

 

 

Seit meiner Kindheit hat er mich begleitet. Er hat mich angeleitet, hat mich väterlich durch den Großstadtdschungel geführt. Er hat mir gesagt, wo es langgeht und wann ich aussteigen muß, wenn ich umsteigen will. Generationen haben ihn nachgeahmt, vor allem seine langgezogene Betonung war der Renner bei kichernden Teenagern: "1AA, 2AA und zu den Zügen der ÖbeeBee" - selten so gelacht. Seine Stimme war einzigartig, ein wenig monoton, ein wenig knurrig, oft resignierend bei Endstationen, aber er war ein echter Einheimischer, dem man vertraute. Wenn er gesagt hat, der Ausstieg sei links, konnte man sich drauf verlassen. Jetzt ist er weg, hat die Notbremse gezogen, ist für immer ausgestiegen, hat die Haltestelleee verlassen.

Die Neue hält sich kurz. Keine Zeit mehr für lange Vokaleee, kein Spielraum für Genießer - knackige Ansagen statt langatmiger Erklärungen. Sie ist am Sprung, man merkt es, ein wenig atemlos, und unterliegt gewaltigen Stimmungsschwankungen. Eben noch fragt sie ein wenig neugierig: "Umsteigen zu ...?" Und im nächsten Moment hämmert sie los, völlig losgelöst: "U1, U2, 38, 43". Als die fremde Stimme das erste Mal ertönte, hätte es mich fast vom Sitz geworfen: Wo ist die Linie? Gekürzt, beschnitten, zusammengestöpselt - wir wurden um einen ganzen Satz betrogen, und was übrig bleibt, wirkt zusammenhanglos. Wo einst ein "Umsteigen zur Linie X" prangte, dümpelt heute ein unvollständiges "Umsteigen zu ... X" vor sich hin.

In dieser ersten Schrecksekunde erschien vor meinem geistigen Auge ein Bild der Massenpanik: Menschen kreischen, erhängen sich an den Haltegriffen, betätigen wie wild den Druckknopf, verlieren in den U-Bahnstationen völlig die Orientierung und schmeißen sich auf der verzweifelten Suche nach der Linie vor den Zug. Realistisch betrachtet, blieb natürlich alles beim Alten: hier ein Rascheln des Kleinformats, dort ein dezentes Hüsteln, aber der Verlust der Linie war wohl niemandem eine hochgezogene Augenbraue wert.

Kein Wunder - wenn schon die Werbung in Halbsätzen spricht (So muß Technik ...), dann ist es auch Blunzn, wenn die Öffis sich von unnötiger Grammatik lösen und nur noch das sagen, was unbedingt gesagt werden muß. Man versteht das ja. Schließlich ist es viel wichtiger, dem geneigten Touristen die Ansagen im perfekten Englisch vorzukauen; da kann das eine oder andere deutsche Wort schon einmal auf der Strecke bleiben. "Klangmarketing" nennen das die Verkehrsbetriebe. Und es stimmt: Die neue Ansage ist bar jeglicher Störgeräusche, dringt sauber und klar an unser Ohr. Sie ist bereinigt vom Dialekt, hat sich befreit vom männlichen Diktat und führt nun international gegendert in die richtige Richtung. Aber den Tonschnitt sollte man verklagen - "Umsteigen zu Regionalzüge"??

Da bleib´ ich lieber sitzen. Und warte auf die richtige Linieee. Aber der Zug ist wohl abgefahren.

Nina Munk

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