Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 50/Teil 3

Die größten Miststücke aller Zeiten (21-30)

Manfred Preschers musikalische Zeitreise geht weiter - in die Siebziger. Auch die hatten Miststücke zu bieten: Rock war zwar tot, doch auch Disco und Punk tanzten nur kurze Zeit.
   18.10.2006

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Eine musikalische Autobiographie zum Jubiläum: Manfred Prescher präsentiert 50 Songs, die er nie aus den Ohren verloren hat. Den Anfang macht die Ära vor den Sixties - von den Marx Brothers bis Dean Martin. Lesen Sie mehr ...

 

Teil 2: Die Sechziger - ein Jahrzehnt, in dem für kurze Zeit wirklich alles möglich war. Lesen Sie mehr ...

 

Im nun folgenden dritten Teil erforscht der Musikexperte das Jahrzehnt des grauenhaften Geschmacks und der musikalischen Revolutionen - von Glam über Punk und Disco bis hin zur New Wave.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

 

Manfred Prescher

21. T. Rex - Children Of The Revolution


Das Stück ist - wie alle Marc-Bolan-Songs - wesentlich intelligenter, als es uns der Glam-Rock-Stampf-Rhythmus weismachen will. Ähnlich wie in "Teenage Rampage" von den Sweet wird hier das Ende der 68er-Generation besungen: Wenn wir rebellieren, dann wollen wir nicht nur, daß uns die Fabriken gehören. Wir wollen auch das, was dort hergestellt wird - den Rolls Royce und all die anderen Statussymbole. Bolan war natürlich viel hedonistischer als die Sweet, und der Song steht auf einer Stufe mit den besten Bowie-Liedern oder mit "Do The Strand" von Roxy Music.

 

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22. David Bowie - Rock´n´Roll Suicide


Im Finale der Glam-Rock-Oper um David Bowies androgyne Kunstfigur Ziggy Stardust weiß diese einen einzigen Ausweg: Nur der Selbstmord bleibt als Lösung, wenn man auf so hohem Niveau an den Strukturen gescheitert ist wie Ziggy. Gleichzeitig besingt Bowie auch das Ende des Rock´n´Roll - und das, bevor die Punks dieselbe Idee hatten. Was den Überlebenden bleibt, offenbart der Nachhall: unpersönliche Kälte in finsteren Zeiten.

 

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23. Kraftwerk - Spiegelsaal


"Spieglein, Spieglein im Regal - wer ist die Schönste hier im Saal?" Vielleicht die eiskalte Diva mit der Zigarettenspitze? Gilda, gespielt von Rita Hayworth? Kraftwerk beschreiben nüchtern die menschliche Eitelkeit und verwenden dazu uneitle Töne aus der Maschine - und die klingt hier tatsächlich so, wie man sich die musikalische Umsetzung eines Spiegelkabinetts vorzustellen hat: wie eine irritierende, alles reflektierende Glaswelt.

 

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24. Alice Cooper - School´s Out


Ein Spruch aus einem der frühen "Lustigen Taschenbücher": "Nicht für das Leben, für die Schule lernen wir". Weil das auch in der Realität stimmt, ruft Alice Cooper das Ende der Schule aus. Nicht des einzelnen Unterrichtstages, nicht des Schuljahres - die Penne ist für immer zu Ende. Die Kinder vernichten alles, was irgendwie damit zusammenhängt und ziehen marodierend von Lehranstalt zu Lehranstalt. Ein Horrorszenario für Lehrer und Eltern: "Mama, wir kommen nicht zum Essen nach Hause!" – "Wieso, ist die Schule noch nicht aus?" – "Doch, wir müssen nur noch den Rektor, seinen Stellvertreter und alle anderen Lehrer umbringen." Damals, in den 70er Jahren, konnte man so was noch singen, da konnte der Jugendliche die Forderung nach Freiheit noch erkennen. Heute haben zu viele diesen Song zu wörtlich genommen.

 

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25. Neil Diamond: I Am ... I Said


Auch wenn es niemanden interessiert: Ich bin auch wer. Und selbst, wenn ich diese trutzige Behauptung zu meinem Stuhl sprechen muß, ich will nicht fremdgesteuert untergehen. Genau darin geht es in diesem großartigen Song, der perfekt zur Selbstfindungsphase eines Teenagers paßt und auch offene Zustandsfragen des Erwachsenen anklingen läßt. Es geht um die Dialektik des Seins: Ich bin ein echter New Yorker und wohne in Los Angeles. Dort kann ich nicht mehr leben, hier will ich eigentlich nicht. Wohin gehöre ich also?

 

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26. Bill Withers - Ain´t No Sunshine


Dieses Lied ist eine der bedrückendsten Beschreibungen eines Beziehungsendes, intoniert aber auch den Nachhall eines jeden Abschieds. Ob das geliebte Wesen allerdings wieder zurückkommt, läßt Bill Withers offen. Der große Sänger mit der warmen, nicht zu tiefen, aber auch nicht zu hohen Stimme hat für den Fall des positiven Ausgangs der Wartezeit die passende Antwort parat: "Lovely Day" ist die musikalisch lockerere Entsprechung zu diesem Monument.

 

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27. Village People - San Francisco (You´ve Got Me)


Kaum haben die Blumenkinder San Francisco den Rücken gekehrt, übernehmen andere die Stadt und erklären sie kurzerhand zur frauenlosen Zone. In einem ellenlangen Disco-Track feiert die Schwulenszene eine rauschende Ballnacht, bei der am Ende alle matt und befriedigt in die Kissen sinken. Der Song zeigt ganz nebenbei, daß Village People nicht nur für den ewigen Fasching und damit für das simple Gemüt stehen, sondern innovativ den House-Sound vorwegnahmen.

 

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28. Hot Chocolate - Emma


Der 1969 gegründeten Formation um den glatzköpfigen Errol Brown wird bis heute nicht die Würdigung zuteil, die sie verdient. Hot Chocolate war eine hervorragende Band mit viel Soul und jeder Menge zeitlos guten Ideen. Ihre Hits funktionieren immer noch, was das auch von Urge Overkill gecoverte "Emma" belegt. Der Song ist eine völlig unpeinliche Schnulze, die mit einer Killermelodie den Selbstmord einer jungen Frau erzählt, die sich allein auf ihren Liebsten verlassen hatte, weil der ihr das Blaue vom Himmel herunter versprochen hatte. Da kann man natürlich anmerken, daß es besser gewesen wäre, sich auf sich selbst zu verlassen - muß man aber nicht. Sonst gäbe es diese süße Moll-Torte am Ende gar nicht ...

 

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29. Ultravox! - My Sex


Als John Foxx der Chef von Ultravox! war, wurde der Sound noch auf Gefrierschranktemperatur gesenkt, was auch perfekt paßte, um die Verwüstungen des Individuums darzustellen. "My Sex" ist eine depressiv-verhaltene Beschreibung der männlichen Sexualität, gekleidet in eine hübsch trostlose Melodie, die das Verlangen von einer Warte aus beschreibt, wo keine Leidenschaft mehr existiert. Das Lied ist die Ergänzung zu einem anderen Stück des Debütalbums, zu "I Want To Be A Machine" nämlich - denn dann ist Schluß mit Sublimation.

 

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30. Randy Newman - In Germany Before The War


Er ist einer der größten Songwriter der an guten Liedermachern nun wirklich nicht armen Vereinigten Staaten. Auf dem Album "Little Criminals" zeigt er die ungewöhnliche Bandbreite seines Könnens besonders eindrucksvoll und bündelt diese in einem Lied, das wunderschön und ruhig ist, einen mit seiner Sanftheit betört - und im Text durch Weglassung erst irritiert, dann verschreckt. Denn Newman erzählt die wahre Geschichte eines Sexualmörders, der vor dem Zweiten Weltkrieg in Düsseldorf sein Unwesen trieb. Das sachte "she lies very still" offenbart mehr vom menschlichen Abgrund, als es ein TV-Beitrag je könnte.

 

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