Kolumnen_Rez gescheid!

Beitel und Einstein

... kommen hier zu unfreiwilligen Ehren. Nein, es geht nicht um ein neues Videospiel. Vielmehr sind es komplexe Konditionalsätze und die Relativität von Zeitangaben, die unser Wiener Sprachressort diesmal beschäftigen.    15.01.2009

"Languages matter!" wußte die UNESCO, als sie das Jahr 2008 zum "International Year of Languages" erklärte. Wir meinen: Ein Jahr ist längst nicht genug. Unser Sprachexperte Dr. Seicherl widmet sich daher weiterhin dem Österreichischen, genauer gesagt: der proletarisch korrekten Sprache im Alltag. Warum? Das erfahren Sie hier.

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Hallo!

 

Es heißt ja immer, Ihr Dialekt hat viel mehr drauf als die Schnauze von uns "Piefkes". Ich habe nun mit meinem österreichischen Kumpel gewettet, daß es bei Ihnen keine Entsprechung gibt für unseren Satz:

 

Wenn das Wörtchen "wenn" nicht wär´, wär´ ich heute Millionär!

 

Bin mal gespannt, ob Ihnen da was zu einfällt.

 

Uwe

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Dr. Seicherl antwortet:

Sehr geehrter Herr Uwe,

die Wette haben Sie, fürchte ich, verloren. In Wien sagt man:

Wan mei tant an beidl hed, wars mei onkl.

Varianten dazu: Wan da wan ned wa, warad scheißdrek butta. Oder: Wan mei tant vier radln hed, warats a autobus.

Mit besten Empfehlungen

 

Dr. S

P.S.: Von allzuforschen "Hallo"s würde ich hierzulande absehen; eine dergestalte Anrede provoziert möglicherweise die Replik da hallo is scho gsturbn, der ligt neman heast.

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Translation / Gebrauchshinweise:

beidl: Penis
Dieses Synonym für das männliche Glied leitet sich nicht, wie meist vermutet wird, von "Beutel" ab (physiologisch gesehen könnten mit Letzterem nämlich nur die Testikel gemeint sein, die aber bekanntlich eia bzw. gogerl heißen).
Namensgeber ist hier der "Beitel", ein sog. spanabhebendes Tischlerwerkzeug, dessen äußere Form die Assoziation verständlich macht; besser bekannt unter der Bezeichnung "(Holz-)Stemmeisen".

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Grüß Gott, Herr Doktor!

Gestern sitze ich in Liesing im 255er-Bus, der dort um 11.10 Uhr losfahren soll. Auf der Anzeige beim Fahrer war es schon bald Viertel nach, und er ist immer noch gestanden. Als ich ihn darauf angeredet habe, hat er geantwortet:

 

Die Uhr zeigt elf!

 

Aber das hat ja gar nicht gestimmt. Was sagt man zu so einer Frechheit?

 

Franz Steinberger (Graz)

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Dr. Seicherl antwortet:

 

Sehr geehrter Herr Steinberger,

Hier muß ich wohl den Chauffeur in Schutz nehmen. Sein Satz lautete, wie ich vermute:

De uhr zöd öfe.

 

Damit meinte er keineswegs die tatsächliche Uhrzeit, sondern wollte Ihnen vielmehr mitteilen, daß auf selbiges Chronometer kein Verlaß sei. Um Ihrer Verärgerung Ausdruck zu verleihen, hätten Sie erwidern können:

A so. Hob ii ned gwußt, daß der dislweka noch da Simaringa wossaleitung ged.

 

Mit freundlichen Grüßen,

 

Dr. S

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Translation / Gebrauchshinweise:

öfe zön: irrelevant sein
disl: selbstzündender Treibstoff (benannt nach Rudolf Diesel)
weka: Uhr mit Läutfunktion (pej.: primitiver Zeitmesser)
Die Wendung zöd öfe ist auf die offenbar verschärfte Variante eines alten Glücksspiels zurückzuführen, bei der es galt, mit drei Würfeln mehr als elf Punkte zu erzielen. Da die statistisch durchschnittliche Augenzahl eines solchen 3,5 beträgt (bei drei Würfeln also 10,5), liegt die Wahrscheinlichkeit, zwölf oder mehr zu erreichen, signifikant unter 50 Prozent. Das Original - "Paschen" genannt - leitet sich vom französischen "passe dix" ab ( = zehn überschreiten); es wird als "Elf hoch mit drei Würfeln" auf der Liste verbotener Spiele des K.u.K. Justizministeriums von 1904 geführt. In dieser Variante genügen, wie der Name sagt, bereits elf Punkte zum Gewinnen - was den Verdacht nahelegt, daß "mehr als zehn" den Wienern noch nicht ausreichend spannend erschien.
Als dislweka wird eine Uhr bezeichnet, der man hämisch unterstellt, wohl mit jenem Kraftstoff betrieben zu werden, der früher nur für große, schwerfällige Maschinen wie LKWs oder Traktoren verwendet wurde.
Die Erste Wiener Hochquellwasserleitung wiederum, die u. a. den 11. Bezirk versorgt (= Simmering), erwies sich einstens im Zuge steigender Bevölkerungszahl als sprichwörtlich unzuverlässig. (Was man allerdings nicht ihrem Planer anlasten sollte: Eduard Suess - siehe: Suez-Kanal - konzipierte sie vor rund 140 Jahren).
Anmerkung: "Viertel nach elf" ist im Wienerischen ungebräuchlich; es heißt virdl zwöfe, ohne weiteren Zusatz, so wie man hoiba zwöfe und dreivirdl zwöfe sagt (anders als etwa im Oberösterreichischen; "11.15 Uhr" hieße dort viadl iba öfe).

Dr. Seicherl

Rez gscheid!

Proletarisch korrekte Sprache im Alltag


Sie haben spezielle Fragen? Sie interessieren sich für die Herkunft einer Phrase? Sie haben keine Ahnung, was Ihnen Ihr unhöflicher Nachbar zu den unmöglichsten Tageszeiten zuruft? Zögern Sie nicht - schreiben Sie Dr. Seicherl unter Dr.Seicherl@gmx.net.

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Kommentare_

horton - 28.01.2009 : 12.42
Sehr verehrter Herr Seicherl,

eine Redewendung, die mich immer beschäftigt 'Das ist für den Hugo'. Wer is Hugo?

Freue mich über Aufklärung.
Dr. Seicherl - 28.01.2009 : 19.25
Sehr geehrte(r/s) horton,
der "Hugo" entstand durch scherzhafte Silbenverdrehung des französischen Ausdruckes haut goût (wörtl.: hoher Geschmack), welcher in kulinarischem Zusammenhang das strenge Aroma abgehangenen Wildfleisches bezeichnet (wien.: <wüdln>).
Im übertragenen Sinne bedeutet Hautgout Anrüchigkeit, oder schlicht Gestank - weshalb mit Hugo auch der Penis oder die Klosettmuschel gemeint sein können.
(Anmerkung: der sprachliche Hintergrund zeigt sich noch in der "französelnden" Variante <des is pur lö ügoo>).
Mit freundlichen Grüßen
Dr. S
Paul Renquist - 29.01.2009 : 09.36
Sehr geehrter Herr Dr. Seicherl!
Im Waldviertel sprach man mich des Öfteren (vor allem in trunkener und lachender Runde) mit dem mir unbekannten Begriff "Bradlpappm" an. Auch in Wien (das ja z.T. eine Waldviertler Kolonie darstellt) fiel mir besagtes Wort in den letzten Wochen verstärkt auf. Hat das vielleicht mit meinem breiten Grinsen zu tun, das meine mich liebende Gattin gelegentlich auch dazu bringt, mich - frei nach "Manche mögen's heiß" - Osgood zu nennen?
Herzlichen Dank im Voraus,
Ihr P. Renquist
Dr. Seicherl - 30.01.2009 : 23.20
Sehr geehrter Herr Renquist,
ich fürchte, die mannigfaltigen Eingeborenendialekte von Berg- oder Waldvölkern fallen nicht in mein Ressort.
"Pappm" beispielsweise ist im nördlichen Donauraum gebräuchlich, während man in Wien eher <goschn> sagt (Ausnahme: die <papulatua> - d.h. das Gebiß - wird beim <papnschlossa> ärztlich betreut). "Bradl" wiederum existiert hier hauptsächlich im Zusammenhang mit der <bradlfetn>, wohingegen in Fett erhitztes Fleisch als <brodn> bezeichnet wird (vgl.: <schweinsbrodn>).
Somit kennt der Wiener zwar eine <bradlgoschn>, benennt damit jedoch einen "Feinschmecker". Ich wage zu bezweifeln, daß solche Profession Waldbewohnern geläufig ist - weshalb ich vermute, daß man Sie entweder als Vielfraß apostrophierte, oder als dekadenten Städter (welcher es sich regelmäßig leistet, Geschlachtetes zu verzehren).
In der Hoffnung, das breite Grinsen nicht von Ihrem Gesicht vertrieben zu haben
und höflichen Grüßen
Dr. S

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