
Kolumnen_Zapped
Einmal für 15 Minuten anonym bleiben
Jeder bekommt seine Viertelstunde Ruhm, prophezeite der berühmte Bananenkopierer in den 60ern. Daß er grausam Recht behielt, ist täglich im TV zu sehen: Dokusoaps sind wie ein Verkehrsunfall - man kann nicht wegschauen. 03.01.2011
Also schauen wir genauer hin, um dann endgültig wegzuschauen; vielleicht auch, um uns endlich einmal was Vernünftiges anzuschauen. Aber was ist schon vernünftig? Eben.
Wann hat das eigentlich angefangen? Wann ist man draufgekommen, daß jeder Vollidiot interessant ist (und wenn nicht interessant, dann wenigstens amüsant)?
Die Antwort heißt Endemol: Man nehme ein paar Exhibitionisten, stecke sie in ein Haus, warte den Lagerkoller ab und lache sie dann aus. "Big Brother" war der Anfang vom Ende, die Urmutter der Dokusoaps.
Das Prinzip war so durchsichtig wie Paris Hiltons Unterhoserl: billige Produktion (ein Haus, ein Garten, ein Zaun), billige Psychologie (ein Prolet, eine Tussi, ein verkappter Künstler) und jede Menge lustiger Spiele (Madenessen, Schlammcatchen, gegenseitige Beschuldigungen) - ein Erfolgskonzept, das selbstverständlich Millionen vor die Bildschirme fesselte.
Aber das mit dem Millionenpublikum ist von Endemol natürlich frei erfunden. Oder kennen Sie jemanden, der sich Big Brother angesehen hat?
Nein. Diesen Schmafu schau ich mir nicht an. Ich weiß zwar, daß sich Gabi mit Berti ganz fürchterlich wegen des Putzdienstes gestritten hat und Evi mit Hansi Sex hatte, aber ich schau mir das nicht an. Höchstens beim Vorbeizappen, fünf Minuten. Man kommt ja nicht aus, wenn man einschaltet, was soll man da machen?
Wie gesagt: Verkehrsunfall. Es will zwar keiner zugeben, aber wir alle fahren langsamer, wenn’s auf der Autobahn gekracht hat und die Feuerwehr grad den Bolzenschneider ansetzt, um die verkohlte Leiche aus dem Auto zu schälen. Elf Jahre nach "Big Brother" sind die Dokusoaps genau das: verkohlte Leichen der Billigproduktionen.
Da gibt es etwa den Typus Heim und Garten: Drei Familien treten gegeneinander an, um das Traumhaus zu gewinnen, das sie vorher selbst renoviert haben.
Oder: Verzweifelte Familien haben ihren Saustall satt und lassen das Heim vom Sender kurzerhand in einen bewohnbaren IKEA-Katalog verwandeln.
Oder: Eine verzweifelte Hausfrau ruft das Fernsehteam, weil ihr Mann zu viele Dokusoaps gesehen hat, sich jetzt für den King of Kettensäge hält und alles alleine machen will.
Die Heimwerkersoaps sind dabei noch die harmlosesten ihrer Gattung: Aus alt mach neu, aus Schrott mach Geld, aus Dreck mach Kitsch - das tut keinem weh, und jeder kann sich irgendwie damit identifizieren.
Dann haben wir den Typus Familiensoaps: Da kennt sich erst recht ein jeder aus, weil jeder bei der Kindererziehung mitredet, egal, wessen Kinder es sind, oder ob er selber welche hat.
Leuten mit einem anstrengenden Beruf sind diese Soaps allerdings nicht zu empfehlen; allein das Geschrei läßt sie panisch zur Fernbedienung greifen. Da prügeln sich munter Eltern mit Kindern, Kindern mit Großeltern und alle mit der Sozialhilfe. Wenn gar noch so eine gepflegte Fachkraft auftaucht, die eifrig Listen erstellt, was den Rotzpipen an den Eltern nicht paßt, dann hilft nur noch die Mute-Taste, um wenigstens das Psychogebrabbel abzustellen.
Es geht eh meistens um ADS oder ADD oder ADHS oder sonst irgendeine postmoderne Störung, welche die lieben Kleinen zu unkontrollierbaren Monstern macht und die Eltern zu Kettenrauchern.
Wer sich das nach Büroschluß antun will, der ist selber schuld - oder einer von denen, die glauben, in ihrer Familie ist alles ganz anders.
Nächste Kategorie: Love & Beauty. Die fasse ich hier absichtlich zusammen, weil sie etwas gemeinsam haben: Wer sich rundum erneuert, ist meistens genauso auf der Suche nach einem neuen Partner wie die traurigen, einsamen Herzen der Lovedokusoaps - die bleiben zwar häßlich, wollen aber trotzdem geliebt werden.
Dazu fahren sie oft weg, zum Beispiel in den Osten, da sind die Frauen ärmer und williger. Oder sie bleiben im Wohnzimmer und erzählen die rührselige Geschichte vom gebrochenen Herzen - und im Hintergrund hängen Katzenposter oder kleine Engelsfiguren oder gestickte Bibelsprüche; nur um die absolute Verzweiflung noch ein wenig mehr zu verdeutlichen.
In anderen Fällen suchen Singles-mit-Kind Männer-mit-Herz, -Hirn oder -Börserl, oder Landwirte suchen Stallhelferinnen, oder die Frauen werden überhaupt getauscht und gehen dorthin, wo sie sich garantiert nicht wohlfühlen - nur, um dann froh zu sein, wenn sie wieder nach Hause dürfen.
In der Beauty-Abteilung herrscht das nackte Grauen. Noch nie haben sich so viele Menschen freiwillig vor der Kamera ausgezogen, und zwar mit so viel Mut zur Häßlichkeit, daß es an Selbstaufgabe grenzt. Schiefe Zähne, fettes Haar oder die gesammelten Werke der gesättigten Fettsäuren auf Bauch, Bein und Arsch?
Alles kein Problem. Das ganz besonders mitfühlende Fernsehteam hält einfach drauf, wo es wehtut, ist mit wohlfeilen Ernährungstips zur Stelle und finanziert hoffnungslosen Fällen diverse Schönheitsoperationen - und schon wird der einst unzulängliche Körper Stück für Stück neu zusammengebaut, als Modell 2.0 präsentiert und auf den Markt geworfen.
Ob die neu glänzenden Menschen nach zwei Wochen immer noch so ausschauen, ist wurscht, denn dann sind die Kameras längst bei den nächsten Kandidaten.
Einen hab ich noch: Die Dokusoaps der Marke Wir genieren uns für andere. Das kann alles sein, von Beauty über Love bis Familien, aber sie haben eines gemeinsam: sie gehen bis an die Schmerzgrenze - und gern darüber hinaus.
Haben Sie schon einmal dieses Kribbeln entlang der Wirbelsäule verspürt, das sachte über den Nacken kriecht und sich schließlich im Kopf zu einem "Danke, mir is’ schon schlecht" manifestiert?
Dann wissen Sie ja, was ich meine: Es geht um kotzende Minderjährige im Alkopops-Rausch. Um gealterte Semiprominenz auf der Suche nach einem neuem Haserl zum Spielen. Oder 13jährige Schwangere mit dem Gemüt von 6jährigen und einem sozial bedenklichen Hintergrund.
Das ist die Zukunft! Eine Runde Genieren für alle, "mit extra peinlich obendrauf".
Und Sie sehen es sich an, oder? Sie schalten ein, Sie bleiben hängen, Sie schütteln den Kopf und am Schluß stellen Sie fest: Mein Gott, geht’s mir gut. Das ist auch der Sinn der Sache: daß es Ihnen besser geht als denen, die da so grauenvoll vorgeführt werden.
Aber wissen Sie was? Sie sind nicht allein. Und jetzt husch, husch in die Heia, aufgedreht und durchgezappt: Ich muß nämlich aufhören - "Richterin Barbara Salesch" fängt grad an.
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