Print_P. J. Blumenthal - Kaspar Hausers Geschwister

Wilde Menschen

Den schmalen Grat zwischen Mensch und Tier erkundet eine Studie, die sich den bekannten Fällen sogenannter "Wolfskinder" widmet. Doch gesicherte Fakten sind selten.    13.04.2004

Als Extremform menschlicher (oder tierischer?) Entwicklung war der Homo ferus oder Wolfsmensch für die Forschung von Anfang an von Interesse. Jene Kinder, die unter Tieren oder ohne menschliche Gesellschaft aufwuchsen, faszinierten die Menschheit seit jeher. Daher kommt es wohl auch, daß manches geistig zurückgebliebene oder verhaltensauffällige Kind kurzerhand zum Wolfskind erklärt wurde.

Der in den USA geborene und in München als Wissenschaftsjournalist lebende P. J. Blumenthal versammelt in seinem Buch rund 100 Fälle von Wolfskindern, die höchst unterschiedlichen Quellen entstammen. Manche sind wissenschaftlich belegt und aufgearbeitet, andere beschränken sich auf eine Zeitungsnotiz oder eine Glosse in einer alten Chronik. Soweit möglich, ging Blumenthal den Fällen nach - mit dem leider oft ernüchternden Ergebnis, daß sich der entsprechende Fall in Luft auflöste.

Bekannt ist die mythologisch verbrämte Geschichte von Romulus und Remus. Wer aber hat schon vom Wilden Peter, dem Schweinemädchen von Salzburg oder dem chilenischen Hundekind Alex gehört? Seit der Aufklärung begann man sich eingehender mit dem Homo ferus zu beschäftigen. Der Grund: Man hoffte anhand der Wilden Peters und Petras zu belegen, welche menschlichen Eigenschaften zu den angeborenen und welche zu den erworbenen gehören - damals eine zentrale Frage der Philosophie.

Natürlich darf in einer solchen Sammlung, der Titel sagt es bereits, auch Kaspar Hauser nicht fehlen, ein Kriminalrätsel, das weiterhin zu faszinieren vermag. Oder Victor, der "wilde Knabe von Aveyron", der vor allem durch Truffauts schwärmerischen Film "L´Enfant Sauvage" Bekanntheit erlangte.

Blumenthals Buch eignet sich aufgrund der Fülle des versammelten Materials hervorragend zum Schmökern. In einem begleitenden Aufsatz wird nicht nur die Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte erörtert, sondern es wird, soweit dies bei den zahlreichen falschen oder verfälschten Geschichten über Wolfskinder möglich ist, auch allgemein über deren Entwicklung spekuliert - und damit darüber, welch klappriger Gaul das hohe Roß, auf das sich der Mensch gesetzt hat, in Wirklichkeit sein mag. Einziger Wermutstropfen: ein Geleitwort von Elfriede Jelinek, das sich auf ahnungsvolles Raunen beschränkt und getrost überblättert werden kann.

 

Reinhard Ebner

P. J. Blumenthal - Kaspar Hausers Geschwister

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Deuticke (Wien 2003)

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