Kolumnen_Miststück der Woche II, Pt. 34

Kitty, Daisy & Lewis: "Going Up The Country"

Man spricht ja vom "Retro-Virus", der weite Teile der Menschheit befallen hat. Daß die Krankheit auch vererbt werden kann, beweist ein englisches Geschwistertrio. Anders wäre das Auftreten der Damen gar nicht zu erklären, findet Manfred Prescher.    01.09.2008

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Bevor ich das Miststück der Woche küre, muß ich - entgegen meinen sonstigen Gepflogenheiten - noch mal an die letzte Kolumne erinnern. Und das durchaus nicht nur, weil meine Prophezeiungen in Bezug auf Katy Perry tatsächlich wahr wurden, sondern weil mich der liebe Kollege Hiess auf etwas aufmerksam machte, das noch nicht einmal in der untersten Schublade meines zugegebenermaßen nahezu umfassenden musikalischen Gedächtnisses zu finden war. Keine Mindmapping-Methode der Welt hätte eine kausale Verbindung herstellen können, weil ich von Jill Sobule und ihrem Song gar nichts mitbekommen habe. Es tröstet mich nur wenig, daß es den allermeisten Menschen genauso gehen dürfte, aber - und da hat Peter Hiess absolut recht - Katy Perry wird das Stück wohl kennen.

Nicht nur, daß der 14 Jahre alte Track ebenfalls "I Kissed A Girl" heißt, auch der Text ist nicht sooo viel anders. Bis auf dieses "Good girls don´t"-Ding, das den aktuellen Megahit durchzieht. Da sich beide Texte leicht im Internet "nachgockeln" lassen, ist es am besten, ihr gehet selbst online und staunet. Bei iTunes kann man übrigens in beide Songs hineinhören. Als Tip zum Thema "Mädels küssen Mädels" fällt mir da der coole Lesben-Country-Song der Two Nice Girls ein: "I Spent My Last Ten Dollars On Birth Control And Beer". Wer den nicht hat oder nirgends downloaden bzw. ebayen kann, dem helfe ich gern weiter.

 

Soweit der Blick in die jüngere Vergangenheit. Jetzt geht´s noch weiter zurück - und zwar in Zeiten, in denen Elvis noch frisch und knackig war und am heimischen Radio Big Joe Turner lauschte: Kitty, Daisy und Lewis Durham reisen mit dem dazugehörigen Instrumentarium, also allem, was rund um einen Standbaß angeordnet sein soll, in die Zeit zwischen New Deal und Presleys Einberufung in Onkel Sams Hütten. Blues-Tonleiter, Hillbilly, Rock´n´Roll und Country-Swing werden zu einer Rockabilly-Mischung, die so old-fashioned klingt, daß man Brian Setzer glatt für den Innovator der Rockmusik halten möchte.

Aber geschmackssicher ist das, was die drei Londoner da zunächst auf einem Doppelalbum und nun auf einer neuen CD aushecken - und zwar bis ins allerkleinste Detail. Das aktuelle Album "Kitty, Daisy & Lewis" wurde nämlich nicht nur auf digitaler Silberscheibe, sondern auch als Schuber mit echten Schellackplatten veröffentlicht.

Natürlich ist es nicht ganz unlogisch, daß der jüngste Rockabilly-Aufguß aus England kommt, da die Teddy-Boys auf der Insel eine Tradition haben, die bis zu den Tagen des jungen Cliff Richard oder zu Johnny & The Pirates zurückreicht. Man denke auch an "Rockabilly Rebel" von Matchbox oder "Eddie Vortex" von Steve Gibbons, mit denen in den 70er Jahren ein bis heute kaum abflauendes Fifties-Revival eingesetzt hat. Erstaunlich ist allerdings, daß die drei so jung sind. Gut, Setzer war auch noch Teenager, als er die Stray Cats gründete, aber damals lagen die Fünfziger noch nicht so weit zurück, und die Wiederkehr des Rock´n´Roll feierte - rechtzeitig zu Elvis´ Ableben - einen weiteren Höhepunkt.

Mittlerweile ist das alles schon Lichtjahre von uns entfernt. Und so reibt man sich verwundert die Augen, weil die drei Nesthäkchen so perfekt im Sumpf der Geschichte wühlen: Daisy ist mit 20 Jahren die Älteste, Lewis ist 18, Schwester Kitty 15 Jahre jung. Alle drei sammeln angeblich 78er-Platten. Was aber zwei Dinge nicht erklärt: Wie kann es sein, daß sie in so kurzer Sammelzeit auf derart rare Stücke kommen? Als leidenschaftlicher Vinyljäger und Pop-Asservatenkammer-Durchforster weiß ich nur zu gut, wie lange es dauert, eine Sammlung zusammenzubekommen, die diesen Namen auch verdient. Meiner Meinung nach kriegen die Durhams das nur hin, weil der Papa über Jahr und Tag einen Grundstock zu beachtlicher Größe hat anwachsen lassen. Das behaupte ich an dieser Stelle einfach mal, ich würde aber wetten, daß ich Recht habe.

 

Der zweite Punkt hat durchaus ebenfalls mit Daddy zu tun: Wie ist es möglich, so frage ich mich und euch, daß drei Kids so verdammt stilsicher und so gut an den alten Instrumenten sind? Das kommt kaum von der Ausbildung an einem musischen Gymnasium. Ich glaube vielmehr, es kommt von etwas, das man in bayerischen und österreichischen Schluchten seit jeher pflegt, wenn die Winterabende kalt und dunkel sind. Oder, um es mit einem Musikbox-Song der 60er Jahre auszudrücken: "Er geigt und sie zithert, so schön ist Hausmusik."

Genau: Ich stelle mir gerade vor, wie die gesamte Durham-Sippe in ihrem Londoner Vorortreihenhaus zünftig zusammensitzt und -musiziert. Getreu dem Motto: "Laßt uns froh und munter sein und '(Got My) Mojo Working' anstimmen". Dazu prasselt das Kaminfeuer im Rhythmus der alten Blues-Melodei. Irgendwie schön und romantisch, dieses Bild - besonders in einer Zeit, in der die Familie als solches den Bach runter, rein in die Themse und von dort in die Nordsee gespült wurde. Auf Nimmerwiedersehen sozusagen.

Das Durhamsche Jammen erklärt auch, wie die Lieder gefunden werden - nämlich über das gemeinsame Assoziieren: "Was paßt denn am besten nach 'Mojo'?" "Wie wäre es denn mit 'Going Up The Country'?" Und schon wird dieser zweitgrößte Hit von Canned Heat angestimmt ... Wer jetzt mokiert, daß der Song doch aus den späten Sechzigern sei und Elvis da schon lang aus der Army entlassen worden war, ja sogar einen neuen Gipfel in seinem Karriere-Massiv erreichte, hat Recht. Trotzdem paßt das von Alan "Blind Owl" Wilson geschriebene Stück zu Kitty, Daisy & Lewis, denn es war schon bei der Erstveröffentlichung anno 68 sehr retro und eingebettet in die britische Blues-Rock-Szene, also der offiziellen Wiederauferstehung von John Lee Hooker, Big Bill Broonzy oder Howlin´ Wolf - und der kommerziellen Ausschlachtung ihrer Ideen durch langhaarige, bleichgesichtige Gitarrengniedler wie Canned Heat. Die Fassung der drei Jungspunde rockt allerdings lässiger als die bekannte Version, klingt aber im direkten Vergleich noch älter. Kein Wunder, da 1948, das Lieblingsjahr von Kitty und ihren Geschwistern, von uns aus gesehen eindeutig hinter 1968 liegt. Spaß kann man aber mit dem Song durchaus haben, schließlich muß nicht alles innovativ klingen. Wie ich an dieser Stelle bereits mehrfach betont habe, gibt es eh kaum Neues unter der Sonne.

Für unser nächstes "Miststück" gilt das ebenfalls. Dennoch dürften sich viele Menschen freuen, daß The Cure wieder unter uns weilen. Ob "The Perfect Boy" auch ein perfekter Song ist, wird kommende Woche geklärt.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Kitty, Daisy & Lewis - Kitty, Daisy & Lewis

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Sunday Best/Rough Trade (GB 2008)

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