Stories_Charlie Huston/Interview, Pt. 1

Schreiben ohne Landkarte

Warum sich der Verfasser der "Prügelknaben"-Trilogie und Joe-Pitt-Erfinder nicht als Hardboiled-, sondern als Pulp-Autor sieht - und worin die Vorteile von Abgabeterminen für das Geschichtenerzählen liegen. Frank Gundermann fühlte dem Amerikaner auf den Zahn.    13.07.2009

Früher hat er als schlechtbezahlter Schauspieler gearbeitet, heute schreibt er. Weil er ja irgendwie seine Rechnungen bezahlen muß, sagt Charlie Huston, und fast klingt es wie eine Entschuldigung. Wer einen durchwegs toughen Typen erwartet, wird überrascht. Im Gegensatz zu seiner Website (inkl. Blog), auf der sich Huston im regelmäßigen Gebrauch von four letter words wie "fuck", "fucker", "shit", "hell" ergeht und damit wohl auch sein hartes Pulp-Schriftsteller-Image ein wenig poliert, wirkt der Schriftsteller im Gespräch sehr sympathisch, nett und äußerst bescheiden. Trotz seines Erfolgs und einer wachsenden Fan-Gemeinde ist Huston nicht nur auf dem Boden geblieben, ihn plagen auch durchaus noch schriftstellerische Selbstzweifel. Warum, das werden Sie gleich von ihm selbst erfahren.


EVOLVER: Der Begriff Noir-Autor scheint Ihnen nicht allzu sehr zu behagen. Sie bevorzugen es, als Pulp-Autor bezeichnet zu werden. Warum?

Charlie Huston: Ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich die Bezeichnung Pulp-Autor bevorzuge, aber sie beschreibt meine Tätigkeit auf jeden Fall genauer. Vor ein paar Jahren, als ich damit anfing, zwei Bücher pro Jahr zu schreiben, und zusätzlich als freier Mitarbeiter für Marvel Comics tätig war, hatte ich diesen Gedanken. Für mich war die Arbeit schlichtweg notwendig, um meine Rechnungen zahlen zu können. Gleichzeitig hat es mir aber auch Spaß gemacht, in einer Position zu sein, die mir eine solche Arbeit ermöglichte.

Ich habe damals zumindest für mich erkannt, daß der Begriff Pulp-Autor weniger mit dem Inhalt der Geschichten zu tun hat oder auch mit den Klischees von Trenchcoats, großbrüstigen Frauen, Gewalt, Schwerter- und Zauberei-Geschichten, Außerirdischen und so weiter, sondern vielmehr mit der Geschwindigkeit, mit der man schreiben muß. (lacht) Es gibt immer sehr eng gesetzte Abgabetermine.

Hinzu kommt die Tatsache, daß klassische Pulp-Schreiber schon deshalb sehr viel schreiben mußten, weil sie für ihre Arbeit so schlecht bezahlt wurden. Ich werde für meine Arbeit sicher nicht schlecht bezahlt, aber ich befand mich plötzlich in der Situation, daß ich mich beim Schreiben komplett nach meinen Abgabeterminen richten mußte und nicht an irgendwelchen ästhetischen Aspekten orientieren konnte, was für die Geschichte nun am besten sein könnte oder nicht. Deshalb fühle ich mich als Pulp-Autor.

Außerdem: Je mehr Bücher ich geschrieben habe, desto mehr entfernte ich mich inhaltlich von reinen Noir-Geschichten. Deshalb scheint es mir passender, mich als Pulp-Schreiber zu bezeichnen - als jemanden, der mit einer bestimmten Geschwindigkeit schreibt und festgelegte Abgabetermine einhalten muß. Und weil man sich daran orientiert und seine Entscheidungen trifft, baut man auch einige Klischees des jeweiligen Genres ein. Auf diese Weise ist es möglich, daß man die Geschichte gewissermaßen verkürzt in "Genre-Steno" niederschreiben kann. Natürlich sagt man sich, daß man nicht auf diese Weise arbeiten würde, wenn man sechs Monate Zeit hätte, um über jeden Satz nachzudenken. Aber ich muß diesen Aspekt der Geschichte jetzt rüberbringen, wenn er sinnvoll ist, und ich muß mich jetzt entscheiden, um mit der nächsten Seite fortfahren zu können.

 

EVOLVER: Sehen Sie diese Art des Schreibens unter Druck als einen Vorteil oder doch eher als Nachteil?

Huston: Für mich war es ein Vorteil. Ich bin erst seit ein paar Jahren hauptberuflich als Autor tätig. Ich glaube, gerade weil ich nicht mein ganzes Leben damit verbracht habe, das Handwerkszeug zu entwickeln, und nicht angestrengt darüber nachgedacht habe, welche Art Schriftsteller ich gern wäre, ist diese Arbeitsweise gut geeignet - auch deshalb, weil ich die meiste Zeit meines Lebens andere Ziele verfolgt habe und eher als Quereinsteiger zum professionellen Schreiben gekommen bin.

Mein erstes Buch habe ich total "instinktiv" verfaßt, in dem Sinn, daß ich es nicht für ein Publikum geschrieben habe und auch nicht den Gedanken hatte, es zu veröffentlichen. Ich habe es ausschließlich zu meinem eigenen Vergnügen und meiner eigenen Unterhaltung geschrieben. Als das Schreiben dann zu meinem Beruf wurde, hat der Umstand, daß ich so schnell produzieren mußte, zwei Sachen bewirkt: Einerseits konnte ich dadurch innerhalb kurzer Zeit eine Menge schreiben, was es mir wiederum erlaubt hat, Handwerkszeug zu entwickeln, das mir eine Hilfe war. Andererseits hielt es mich auch davon ab, all zu viel über das nachzudenken, was ich da tat.

Der große Nachteil dabei ist natürlich, wenn man sehr schnell eine Entscheidung treffen muß, damit sich die Geschichte weiterentwickelt, und erst 50, 60 Seiten später bemerkt, daß diese Entscheidung die Geschichte untergräbt. Nur ist dann leider nicht mehr genug Zeit vorhanden, um alles umzuschreiben - also muß man gewissermaßen kleine Pflaster auf die Dinge kleben und sie eilig ausbessern. Wenn man eine Geschichte schreibt, die sich für den Leser schnell genug entwickelt, wird man ihn über diese schwachen Stellen hinwegbringen können. Da ich keine Zeit habe, die Handlung im vorhinein genau zu planen, und das auch nicht unbedingt eine meiner Stärken ist, glaube ich, daß der Plot meiner Bücher einer genauen Überprüfung wohl kaum standhalten würde. Wenn man sie auseinandernimmt und kritisch untersucht, wird sich wahrscheinlich herausstellen, daß sie voller Löcher sind. Das ist natürlich größtenteils ein Symptom der Arbeitsweise, zeigt aber auch, in welche Bereiche ich den meisten Arbeitsaufwand stecke. Normalerweise sind das die Charaktere und die Dialoge - und nicht so sehr die Handlung.

 

EVOLVER: Sehen Sie das "Ungeplante" auch als Möglichkeit, um möglichst viel Spontaneität in den Plot zu bringen?

Huston: Ich denke, daß es dafür unerläßlich ist; dadurch atmet die Geschichte gewissermaßen Spontaneität. Ich glaube, daß es zwei Arten von Schriftstellern gibt: Das sind zum einen die, die eine genaue Struktur brauchen und sozusagen zuerst eine Landkarte der Geschichte vor sich auslegen müssen, bevor sie sich auf die Reise begeben. Solche Schriftsteller sind nicht gerade gut darin, sich literarisch einfach auf den Weg zu machen und zu schauen, wohin es geht. Und dann gibt es eben Autoren wie mich, die nicht in der Lage sind, vorher eine solche Landkarte zu zeichnen, aber in dem Moment loslegen und die Geschichte zusammensetzen können, in dem sie die Landschaft sehen.

Früher habe ich versucht, zuerst die Handlung einer Geschichte zu entwerfen, allerdings ist es bei dem Versuch geblieben. Wenn mir die Charaktere fehlen, die die Landschaft bevölkern, steigt mein Gehirn aus. Ohne eine Figur zu haben, die sich durch die Szenerie bewegt, kann ich nur schwer erkennen, wie die Story funktionieren soll.

Ich stelle mir also zuerst eine Figur oder den Grobentwurf für eine Situation vor, manchmal auch schon mit der dazugehörigen Umgebung. Danach habe ich diese Ideen eine Zeitlang im Kopf, so zwischen sechs Monaten und mehreren Jahren, und mache mir immer wieder Notizen, bis sie reif für ein Buch sind oder ich Zeit zum Schreiben habe. Dann habe ich aber sehr klare Vorstellungen davon, wer mein Protagonist ist und wer die Nebencharaktere sind. Und ich habe ein Gefühl für die Welt, in der sie leben - oder weiß zumindest recht gut, wo ich eine Figur enden lassen möchte. Dazu gibt es einige festgelegte Action-Teile, ein paar Dialogszenen, einige Handlungsorte, die zum Buch passen; diese Bestandteile verwende ich als Wegpunkte, an denen ich die Figur entlangbewege. So lassen sich die Dinge am besten voranbringen. Für mich ist dieser Prozeß immer sehr spontan und sehr organisch.

 

Fortsetzung folgt. Lesen Sie im zweiten Teil über das Trainieren neuer schreiberischer Muskelgruppen, wie es mit anstehenden Verfilmungen aussieht, den letzten Joe-Pitt-Roman und den Wunsch, eine abgeschlossene Geschichte zu erzählen.

Frank Gundermann

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