Kolumnen_Miststück der Woche III/48

Miles Davis: "Blue In Green"

Eigentlich wollte Manfred Prescher über etwas ganz anderes schreiben - aber eine private Tragödie zwingt ihn gerade zum Umdenken. Andere Zeiten brauchen halt auch andere Lieder, vielleicht sogar andere Kolumnen.    26.08.2013

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.

 

Ich will mal das Tagesgeschäft ruhen lassen. Vielleicht ein paar Kleinigkeiten noch, die so aus dem aktuellen Pop-Geschehen raus auf die Tastatur purzeln: Ihr erinnert euch sicher an das Gespräch, das ich mit dem genialen Herrn Mozart führen durfte? Es ist ja im vorigen Miststück nachzulesen. Auf jeden Fall haben viele Menschen unser beider Tip in Bezug auf Helge Schneiders "Sommer, Sonne, Kaktus" angenommen - das Album ist tatsächlich auf Platz 1 der deutschen Charts eingestiegen.

Und ansonsten? Wird grad wieder mal im Pop-Diskurs erörtert, ab wann Musiker alt sind. Sind sie es, wenn sie eben mal vier oder fünf Platten eingespielt haben? Dann kommen tatsächlich einige rüstige Rentner mit ordentlichen Werken auf uns zu: Franz Ferdinand bemühen sich nach Leibeskräften, mit Funk den Spirit der ersten beiden CDs einzufangen, die Arctic Monkeys kriegen den Dreh zur frühen Power tatsächlich hin – ihr "Do I Wanna Know" ist der definitive Energiestoß des Spätsommers -, und dann ist da noch Peter Doherty, der mit den Babyshambles zu überraschend riesiger Form aufläuft. Dieser gerade einmal 34jährige Holzmichel lebt tatsächlich noch, aber darüber schreibe ich dann beim nächsten Mal. Die für heute angekündigte Girlgroup Haim muß erst mal weichen; hört euch die begabten Mädels aber ruhig mal an. Das schadet nichts und macht sogar gute Laune.

 

Normalerweise schreib´ ich hier über Gott und die Welt und setze Dinge in Beziehung, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben mögen. Halt ganz so, wie sie mir durch die Ganglien mäandern. Dann bringe ich im Prinzip meinen kompletten Kosmos in Einklang mit dem jeweiligen Song - und genau das ist hier und heute die Crux. Was mir passiert ist, gehört dieses Mal einfach nicht in eine Kolumne, mir fehlen die richtigen Worte. Da ich sie aber nicht suchen will und daher auch nicht werde, läuft das diesmal etwas anders. Die Musik, die ich gerade höre, entzieht sich gottlob den Ansprüchen an Aktualität, Bewertbarkeit und dem Prescherschen Bewertungssystem punkto Relevanz und Zukunftsträchtigkeit. Sie hat längst bewiesen, daß sie Moden und Wellen überdauert, daß sie gewissermaßen elegant und flink über die Zeitströme hinwegsegelt wie die BMW-Oracle-Yacht BOR 90 beim 2010er-"America´s Cup". Und nebenbei verzichtet sie gänzlich auf Worte, was ich gerade als wohltuend kontemplativ empfinde.

Als Miles Davis im März und April 1959 für Columbia ins Studio ging, war nicht abzusehen, daß der eigentlich ausgebrannte Trompeter nun mit seiner kreativ besten Phase beginnen würde. Und doch startete Davis mit den fünf Stücken von "Kind Of Blue" in ein Jahrzehnt, an dessen anderem Ende die Jazzrock-Hit-Doppel-LP "Bitches Brew" und vor allem das verhaltene Großwerk "In A Silent Way" stehen würden. Vor "Kind Of Blue" waren die Platten des Ausnahmekünstlers, der übrigens auch mit dem Flügelhorn virtuos umgehen konnte, in ihrer Qualität sehr uneinheitlich. So stehen neben der berückend schmerzhaften Soundtrack-Platte zu Louis Malles Film "Fahrstuhl zum Schafott" uninspirierte Schnellschüsse wie etwa "Workin´" oder "Steamin‘".

 

Und dann kam das magische "Kind Of Blue", eingespielt mit Cannonball Adderley (Altsaxophon), John Coltrane (Tenorsaxophon), Paul Chambers (Baß), Jimmy Cobb (Schlagzeug) und vor allem Bill Evans, dessen Klavierspiel die Platte trägt - nicht nur wegen des "aufhörenerregenden" Intros zu "So What". Wie auf einer Wäscheleine setzt Evans Klammer um Klammer, hält die Stücke zusammen, auf daß sie der geniale Wind von Davis nicht davonwehen läßt. Die wunderschön-entspannende Ballade "Blue In Green" hat Evans angeblich sogar geschrieben, obwohl auf der Platte Miles selbst als alleiniger Autor genannt wird. Hier wiederholt der Pianist das Thema immer wieder, variiert es weiter, treibt es sacht voran.

Man hat den Eindruck, einem Weltenlauf zu folgen, der sich in einem langsamen, aber stetigen Wandel befindet. Radikal ist dabei, daß Evans auf Radikalität verzichtet und Davis bzw. Coltrane hier aus der Ruhe Kräfte schöpfen und sie bündeln. Das Ergebnis würde man heute als "chillig" oder "loungig" bezeichnen, aber es entzieht sich auch solchen Bewertungen immer wieder. "Blue In Green" kann trösten, wärmen, streicheln und liebkosen. Und doch sagt es auch seine Meinung. Ohne Worte, aber klar und eindeutig: Das Leben ist immer lebenswert - und nach jedem Orkan wehen auch wieder wohltuende, erfrischende Winde. Das ist die Botschaft.

Nächste Woche werde ich mich hier tatsächlich mit Peter Doherty beschäftigen. Mal schauen, was sich seit den Kolumnen von 2005 (Babyshambles) und 2009 (Peterchens Solofahrt) getan hat. Bis dahin: Paßt auf euch auf und hört gute Musik - die darf ruhig von Miles Davis und Bill Evans sein.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Miles Davis: "Blue In Green"

Leserbewertung: (bewerten)

Enthalten auf der CD "Kind of Blue" (Columbia/Sony Music)

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