Kolumnen_Miststück der Woche III/77

Coldplay: "Magic"

Gebt dem Volk Brot, Spiele, Wein und Gesang. Für die einfacher gestrickten Seelen nehmt meinetwegen Andreas Gabalier oder Irene Fischer, für die ach so intelligenten Zeitgenossen Coldplay, meint Manfred Prescher.    31.03.2014

Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?

In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.

 

An dieser Stelle, also justament am Anfang der Kolumne über Coldplay, könnte der abgedroschene Satz stehen, daß die "so etwas wie die U2 der Nullerjahre" wären. Da ist tatsächlich etwas dran, wenn man mal davon ausgeht, daß beide Formationen ein ähnliches Publikum begeistern und in Scharen in die Stadien dieser Welt locken: Intelligent, integer und auch im Schwarm bzw. beim Schwärmen noch irgendwie individuell ist die Gefolgschaft dieser Bands. Bei deren Form des Stadionrocks kann durchaus auch mal ein Glas Cola Light oder eine Schale Sektodelaschmeckto (Lindenberg) verschüttet werden - statt des seinerzeit von Gottlieb Pöbel erfundenen Dünnbier-Plastikbechers. Den erhält man natürlich als Anhänger des FC Bayern, von Red Bullock Obersalzberg oder von Eintracht Deppendorf genauso wie als Fan von Metallica oder den Ärzten. Auch bei den Bösen Opelz wird das für gewöhnlich gereicht, man weiß ja schließlich nie, was Gläser und Flaschen anrichten würden, doch ich schweife ab.

Natürlich spielen Coldplay in Fußballstadien, das aber auch nur, weil seit dem Debütalbum "Parachutes" jede CD so oft verkauft wurde, daß beinahe jeder emotional veranlagte Mensch mit einem IQ oberhalb des gewöhnlichen deutschen Schäferhundes mindestens einen Silberling der Band in den Latifundien herumstehen hat. Von den bisherigen fünf Werken von Coldplay wurden offiziell mehr als 51 Millionen Exemplare an Männlein und Weiblein gebracht. Das macht – analog zum Darts-Sport, einen "Ein-CD-Average" von ... Ach, rechnet selbst. Inmitten einer kriselnden Musikindustrie ist das enorm, und wir müssen davon ausgehen, daß noch Milliarden illegal und scheißegal aus dem Internetz gesaugte Versionen der Alben auf den Datenspeichern dieser Welt herumschwirren. Würde man, so vermute ich, all die Coldplay-Songs, die kostenlos auf sogenannte Gadgets - zu deutsch "technische Spielereien" - geschaufelt worden sind, in einer gemeinsamen Cloud abspeichern, dann könnten wir auf diesem unseren Planeten praktisch nirgendwo mehr die Sonne sehen.

Wahrscheinlich ist die Coldplay-Dichte in Hamburg besonders wetterwirksam auffällig. Weil: Immer wenn ich in der freien Hansestadt herumschwirre, ist das Wetter nicht so besonders. Aber gut, man kann nicht alles haben. Ich bekam übrigens tatsächlich auch eine CD von Chris Martin und Co. Ganz offiziell von EMI bemustert, habe sie erst besprochen und wollte dann ein Lied für einen Sampler verwenden, den ich für eine Herzensdame zusammenzustellen trachtete. Dem Staub nach zu urteilen, "hat die Wolln nicht greicht", wie wir Franken sagen, und ich habe das recht schöne Werk seither vergessen. Es lieget zur Rechten von Bono, den Undertones, dem Heiligen Geist von Nikki Sudden und vielen Platten, die das Signet "die müßte man eigentlich mal wieder hören" auf dem Cover tragen.

 

 

Im Ernst jetzt: Ich habe noch nie für einen Sampler einen Song von Coldplay verwendet. Was nicht ist, kann aber tatsächlich noch werden, denn "Magic" ist der ruhig vor sich hinschlurfende Popsong, der unaufgeregt speziell die Herzen der Mädels erreichen kann. Und dann diese Zeile, die in etwa so geht: "Es ist magisch, wenn ich in deiner Nähe bin" - ja, das kommt unter Umständen wirklich gut an. Den Song kann man(n) folglich, ohne sich allzusehr dem Weiblichen anzubiedern, gut mal auf eine Mixtape-CD einstreuen. Kommt dann gut, wenn die Angebetete mit ihrem motorisierten Einkaufswägelchen durch den Alltag schuckelt und im Streß ein wenig abschalten will. Sogar der reichlich synthetische Beat, der dermaßen nach den 80er Jahren klingt, daß es ihn so damals gar nicht oder höchstens in einer hochgepitchten Form bei Afrika Bambaataa gegeben hat, bringt frau dann gut drauf. Das ist zweifelsfrei mehr, als man von vielen anderen Liedern sagen kann, aber richtig "happy" machen Coldplay nicht. Mit dem Grundton der Martinschen Überzeugung werden halt immer etwas Melancholie, Traurigkeit und Novemberregen in Melodie und Arrangement hineingestreut. Nicht zu viel, man ist ja nicht Nick Cave, aber auch nicht zu wenig, Pharrell Williams geht halt anders. Und mich führt der Novemberregen unweigerlich wieder zurück nach Hamburg, wo es ein Sprichwort gibt: "Wenn es im Märzen regnen tut, ist das Wetter meist gar nicht gut. Aber wenn es seit November regnet ohn Unterlaß, wird man praktisch täglich naß" - aber lassen wir das.

Coldplay werden mit ihrem neuen Album "Ghost Stories" sicher wieder überall auf Platz 1 landen und dort wochenlang verweilen. Und womit? Mit Recht natürlich, denn sie machen einen ordentlichen Job. Mein Lieblingsgeist ist, aber das nur am Rande dieser Kolumne, übrigens der von Rex Harrison gespielte, saucoole, sehr verliebte, leider aber recht tote Captain Daniel Gregg aus dem wunderbarlichen Film "The Ghost And Mrs Muir", von anno 1947.

Nächste Woche schreibe ich etwas über einen Mann, der in meiner Empfindung mindestens genauso lang mit seiner nöligen Stimme präsent ist - es wird dann um Jan Delay gehen. Über den schmalen Grat zwischen perfekter Unterhaltung und Nervfaktor könnt ihr dann am kommenden Montag lesen. Bis dahin macht´s gut, macht´s besser, macht´s am besten gleich richtig.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Coldplay: "Magic"

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Enthalten auf der CD "Ghost Stories" ( Parlophone Label Group/Warner)

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