Kolumnen_Miststück der Woche II, Pt. 48

2008 - Crisis, what Crisis?

Was soll man von diesem Jahr halten? Wird man es für seine passable Musik schätzen - oder doch eher, weil die Amerikaner Obama zum Präsidenten gewählt haben und sein Sohn die Formel 1 gewann? Manfred Prescher wagt einen ersten Blick zurück.    22.12.2008

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Meine Prognose ist klar: Das Jahr 2008 war nichts Besonderes, wenn man vom sich beschleunigenden Niedergang der Musikindustrie absieht. Wahrscheinlich sind in letzter Konsequenz nicht die Banken und die amerikanischen Häuslesammler an der Krise schuld, sondern die Multimediakonzerne. Aber das ist wurschtegal - denn auch, wenn dereinst die letzte CD ausgestanzt ist, wird weiterhin gute Musik zu hören sein. Darauf gebe ich euch mein Wort.

Schon heute zeigen die vielen regen Indie-Szenen den Weg. Wer suchet, der findet. Allerdings wird das Fahnden immer schwerer, je abgeschotteter von Marketing-Strategien und Werbebudgets die Sub-Styles dahinvegetieren. Aber der Süchtige findet schon einen Weg - und das muß er auch, will er an Stoff kommen.

Für alle Exzentriker werden die Bear Familys dieser Welt weiterhin das Fähnlein hochhalten, genauso, wie sie es im Krisenjahr 2008 schon gemacht haben. Wer sich für altes Zeug jenseits der Oldies-Saumseligkeit merkwürdiger Chartshows interessiert, bekam von der Bärenmarke oder auch von Ace, was er wollte. Zugegeben, es gibt billigere Vergnügungen, aber Gutes darf nun mal auch teuer sein.

Wo wir schon bei Kram von gestern sind: Auch die aktuellen Veröffentlichungen sind so retro wie nur irgend möglich. Ob Kaiser Chiefs, Beck oder MGMT, retro war und ist auch bei den Cooleren angesagt. Der Preis für das platteste Stück in diesem Bereich geht an Jack White, der sich an der Bond-Schatulle bedient und ein Trash-Remake von "Live And Let Die" erstellt. Höhepunkte der gepflegten Rückwärtsgewandtheit stammen vom Arctic-Monkeys-Sidekick The Last Shadow Puppets, die das Swinging London der Sixties auferstehen lassen - und von Duffy. Ihr "Warwick Avenue" ist mehr Motown, als es die Company seit zweieinhalb Dekaden selber fertigbringt. Allerdings sind da noch die (besseren) Originale, aber die kennt eh keine Sau mehr. Puppets und Duffy teilen sich den Ehren-Award "Gestern ist heute morgen".

 

2008 war auch wieder ein Jahr des Tanzflur-Hedonismus. Unser Freund Disco Stu wählt daher Hercules And Love Affair und die Chanteuse Antony mit ihrem "Blind" zum Bee-Gees-Track des Jahres. ´09 wird auf dem Vulkan weitergetanzt werden - und zwar zunächst einmal mit "Ulysses" von Franz Ferdinand, dem Thronfolger für stilvolles Gehopse. Mit diesem Song wird der DJ manches Leben retten, genau wie mit "Blind" im vergangenen Spätwinter.

Manche sind älter, als sie ausschauen: Im Sommer 2008 waren mit Neil Diamond, Kris Kristofferson und Leonard Cohen gleich drei Methusalems in München zu bewundern. Jeder von ihnen hätte den Preis "Cooler Senior" verdient, doch der geht knapp an Leonard Cohen. Und das nicht nur wegen "Democracy is coming to the USA". Den Las-Vegas-Award gewinnt Neil Diamond, den Goldenen Stetson für den letzten aufrechten Outlaw erhält Kristofferson. Alle drei sind frischer als die Devendra Banharts und Ryan Adamse, die man sehr wohl trotzdem schätzen muß.

 

Die Hymne gegen jede Art von Krise ist "I.f.d.g.", oder "Ich find das gut" vom Farin Urlaub Racing Team. Nebenbei ist dieser musikalische Pausensnack ein Beispiel für der Deutschen Hang zu Ragga-Ska. Den Preis in dieser Sparte gewinnt jedoch Peter Fox für "Haus am See". Nebenbei wird er auch noch vom Verband der Abrißunternehmen und Einstürzenden Neubauten für "Alles Neu" ausgezeichnet. Weil: Wer Berlin neu aufbauen will, muß nicht zwangsläufig in Albert-Speer-Dimensionen denken.

Den Bob-Dylan-Preis für die umstrittenste Persönlichkeit bekommt im Jahr 2008 Campino. Der Sänger der Toten Hosen beschreibt die Midlife-Crisis in melancholischen Worten. Manche finden das fad, andere sehr spannend. Auf jeden Fall ist "Tauschen gegen dich" nicht punkig. Im kommenden Jahr wird dieser Award wahrscheinlich an Morrissey gehen. Aber so ist das mit Göttern: Viele wollen nicht an sie glauben, sondern jagen stattdessen lieber Rocksäumen oder dem Mammon nach. Den Preis für die effektivste Gelddruckmaschine bekommen AC/DC, knapp vor Grönemeyer. Die Australier könnten glatt die Musikindustrie retten, was o.k. wäre. Außerdem geht die Fred-Feuerstein-Medaille in Granit an die Rockband, da kein anderes Altmetall soviel Spaß macht. Donnerkiesel! Flops des Jahres wurden übrigens Guns ´N Roses, deutlich vor Adam Green (der eigentlich ein gutes Werk abgeliefert hat) und The Long Blondes.

 

Bleiben noch die Spezialpreise: Den Bono-Gutmenschen-Umweltrettungs-Award gewinnt Peter Gabriel für "Down To Earth" aus dem Film "Wall-E". Allerdings könnte ihm die Auszeichnung - falls es sich bewahrheitet, daß Gabriel zu Genesis zurückkehrt - im nachhinein wieder entzogen werden. Der Preis für den lustigsten Außenseiter, der "Prix d´katzpiss", geht an Unknown Hinson (Anm. d. Red.: Kaufen Sie sich auf der Stelle "The Future is Unknown"), der um Nasenhaarlänge vor Santogold und den frühreifen Kitty, Daisy & Lewis gewinnt. Das englische Geschwistertrio erhält dafür den goldenen Brian-Setzer-Orden "Really Rockabilly 2008". Schauspieler Martin Semmelrogge kriegt die Motörhead-Auszeichnung am Bande, weil keiner die Lemmy-Biographie besser als Hörbuch einspielen könnte. Der Kopf von Motörhead erhält seinerseits den Kriegsveteranenorden aus den Händen von General Jack Daniels.

Natürlich kann ich an dieser Stelle nicht alle würdigen, die sich Verdienste erworben haben. So fehlen alle, die eigentlich ein paar Schläge auf den Hinterkopf verdienen, aber die werden ja bereits in den "normalen" Miststücken abgewatscht ...

In der ersten Kolumne im neuen Jahr wird es übrigens um einen Mann gehen, der kein Strafgericht braucht, weil er als Enkel von Hank Williams ohnehin ein Meister der Selbstgeißelung ist. Danach möchte ich mit den EVOLVER-Lesern die 150. Ausgabe dieser Rubrik feiern - und zwar mit den 15 wichtigsten Songs zum Thema "Schließen von Beziehungskisten". Einer davon könnte "Born To Cry" von Tony Christie sein. In obiger Kategorie ist dem Lied auf jeden Fall der ´08er-Titel sicher.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Kommentare_

Kolumnen
Fundamentalteilchen 17/417

Alte Freunde, neue Zeiten

Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 17. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Ina Müller.
 

Kolumnen
Fundamentalteilchen 16/416: Der Winter steht vor der Tür

Wolle mer ihn reinlasse?

Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 16. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Deine Freunde.  

Kolumnen
Fundamentalteilchen 15/415: Der vermaledeite Brummschädel

Das ewige Kommen und Gehen

Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die 15. Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Ava Vegas.  

Kolumnen
Fundamentalteilchen 6/406: Haruki, Elvis und ich

Literatur ist es, wenn man trotzdem lacht

Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die sechste Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Elvis Costello.  

Kolumnen
Fundamentalteilchen 5/405: Seit sieben Wochen keine komischen Streifen am Himmel und jeder dreht durch

Angriff der Kichererbsen

Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die fünfte Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Lana Del Rey.  

Kolumnen
Fundamentalteilchen 4/404: Mach nicht so viel Wind, mein Kind

Wenn es draußen stürmen tut, ist das Wetter gar nicht gut

Nach dem "Miststück der Woche" kommen die "Fundamentalteilchen". Lesen Sie jetzt die vierte Ausgabe von Manfred Preschers musikalischem Walkürenritt für die Ewigkeit - feat. Charlotte Brandi & Dirk von Lowtzow.